Zeilen und Tage
Kultur der Gewissenserforschung auch in den Ländern des Westens nicht besonders gut. In den nachchristlichen Zuständen greift die mauvaise foi ungenierter um sich denn je. Auch hierzulande ist das Gewissen für viele feindliches Ausland geworden. Nicht im Traum denken die Einheimischen noch daran, dorthin zu fahren. Sie lügen wieder um die Wette und geben sich selber in allen Punkten recht.
14. Januar, Wien
Ob von den akademischen Mitternachtskindern auch einige die Fähigkeit besitzen, mit den anderen Bewohnern der Elfenbeintürme rund um die Welt telepathisch zu kommunizieren?
In einem der am feinsten ziselierten Türme wohnt die junge Judaistin Sarah Abrevaya Stein, ihres Zeichens Professorin für sephardische Studien am Department of History der University of California Los Angeles. Ihr verdankt man eine hinreißend entrückte Studie über die Geschichte des Straußenfedernhandels und die Rolle der jüdischen Akteure hierin: Plumes: Ostrich Feathers, Jews, and a Lost World of Global Commerce , Yale 2008. Man wartet auf einen Architekten, der uns endlich erklärt, alle Geschichte sei die Baugeschichte von Elfenbeintürmen.
17. Januar, Wien
Jeder Mensch in seiner Halbwelt, eingerollt in eine Hülle aus Gewohnheiten und Illusionen. Fotografien der Lieben auf dem Schreibtisch und im Adreßbuch die Namen der Freunde, die seine Halbweltkomplizen sind.
23. Januar, Wien
Südkoreanische Intellektuelle sagen: 70 Jahre in Europa sind 7 Jahre in Korea. Auf die Emirate übertragen hieße das: 100 Jahre in Europa sind 5 Jahre in Dubai.
Der Raum ist nur ein Mittel, zu verhindern, daß sich alles an derselben Stelle befindet.
24. Januar, Wien
Man versteht die Moderne nicht, wenn man von der Antimoderne nichts begreift.
Wer wie Joseph de Maistre vorgibt, vom Walten der göttlichen Vorsehung in der Geschichte überzeugt zu sein, steht am Ende des 18. Jahrhunderts vor der Frage: Wie konnte Gott die Französische Revolution zulassen? Wie konnte er die Siege Napoleons dulden? Wie ist das ewige Gemetzel seiner Eroberungskriege im Namen von Frankreichs Größe zu verstehen? Darauf suchen die Abende von Sankt Petersburg eine Antwort – die heilige Schrift der katholischen Reaktion. Sie finden die Erklärung inder These, daß die Greuel der Gegenwart nichts anderes seien als ein Purgatorium für eine aus dem Ruder gelaufene Menschheit – namentlich für die Franzosen, vormals Gottes Lieblingsvolk und nun einer besonders strengen Strafe ausgesetzt. Die Schrecken der Gegenwart dienen der Prüfung, aus der nur die Treuesten der Treuen aufrecht hervorgehen werden. Bei de Maistre wird der giftigste Gedanke der katholischen Gegenmoderne geboren, wonach der Liberalismus in jeder Gestalt nichts anderes sei als die teuflische Versuchung, welcher die Kirche in ihrer letzten Bewährungsprobe um jeden Preis widerstehen müsse.
Der Verfasser der Petersburger Gespräche ahnte nicht, daß bei seinem protestantischen Zeitgenossen Hegel die stärkere Lösung des Rätsels gefunden worden war: Gott läßt die Ereignisse der Geschichte nicht bloß zu, er verwirklicht sich in ihnen. Die Prüfung besteht nicht darin, ihnen zu widerstehen, sondern darin, sich an ihre Spitze zu setzen.
25. Januar, Karlsruhe
Gäbe es eine objektive Geschichte der »Kritik«, würde man erkennen, wie einseitig man den Begriff zumeist gebrauchte. Man verstand darunter bis heute fast immer die Abrechnung der Gerechten und Progressiven mit dem schlechten »Bestehenden« und die Attacke der Vernunft gegen das mißratene Alte. Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, daß seit 1789 der größere Teil der »Kritik« von konservativer Seite vorgebracht wird. Unentwegt geht man mit dem schlechten »Bewegenden« ins Gericht und findet tausend Gründe, über dem mißratenen Neuen den Stab zu brechen.
Vom Elend deutscher Theologen, die sich 1914 zwischen Bethlehem und Potsdam nicht entscheiden konnten.
Ihre Misere wurde nur noch überboten durch das vergiftete Glück der »christlichen Realisten« vom Schlage Niebuhrs, diespäter die Botschaft von Golgatha mit den Tagesbefehlen des Pentagon in gemeinsame Communiqués zusammenfaßten.
Karl Barth fand zu seinem Tonfall in dem Augenblick, als er begriff, daß nur Gott von Gott kompetent zu reden befugt ist. Man hätte vorhersehen können, daß dies in einer ventriloquistischen Komödie enden mußte.
27. Januar, Pfäffikon
Das Auge feiert, wenn es weder »blickt« noch ins Leere starrt. Am Ende des Tunnels ein leuchtendes
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