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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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– 30. April 2009
11. Februar, Dresden
    Bei Haien soll es intrauterinen Kannibalismus geben: Man will beobachtet haben, wie stärkere Föten schwächere auffraßen. Wenn also die Gleichsetzung des pränatalen Lebens mit der biologischen Matrix des Paradieses voreilig gewesen wäre?
    Beruf: Skorpionmelker
12. Februar, Karlsruhe
    »The bonus is everything in the City.«
    Wir halten Nachrichten für eine so selbstverständliche Größe, daß wir vergessen haben, wozu sie eigentlich dienen. Sie sind ein Verfahren zur Bewältigung von Synchronwirklichkeit – und dadurch das Medium, das uns an die moderne Gegenwart anschließt. Die Ausbildung des Nachrichtenwesen an frühneuzeitlichen Höfen und Handelshäusern verrät, über welche Wege der Großwelt-Stress sich unter den Europäern ausbreitete. Heidegger meinte, es sei das Merkmal der Neuzeit, daß in ihr die Welt zum Bild wird. Er hätte hinzufügen sollen: ihr noch stärkeres Merkmal ist, zur Nachricht zu werden. Bild und Nachricht drängen beide zur synchronen Auffassung. Sie lösen die Beziehung zum Früheren und Späteren auf. Je mehr Gleichzeitiges verarbeitet wird, desto schneller verflüchtigt sich der Schein von Ordnung und Notwendigkeit. Zuletzt bleibt nicht mehr als ein Schneegestöber unverbundener Einzelmeldungen zurück.
    Zumeist wurde Sein und Zeit als eine historisch-futurische Deutung der Existenz gelesen, nicht ganz zu Unrecht. Doch hätte das Buch schon damals besser von Sein und Gleichzeitigkeit handeln sollen.
    Jetzt tauchen Fragen auf, die man so früher unmöglich stellen konnte: Warum sind wir nicht längst schon alle tot? Die richtige Antwort ist jüngeren Datums: Weil biologische Immunsysteme uns Schutz vor mikrobischen Invasionen bieten, ohne daß wir davon Notiz nehmen müßten.
    Und: warum sind wir nicht alle schon verrückt? Auch hierauf ist die Antwort kontraintuitiv: Weil wir zu unserem Vorteil fast nichts von dem sehen, was gleichzeitig geschieht. Das Nicht-Sehen des Gleichzeitigen, das anderswo passiert, ist kein Ignorieren, sondern ein ursprüngliches Verschontsein von Aussichten in die maßlose Maschinerie. Sieht man zu viel, rückt der Wahnsinn näher.
    Den ursprünglichen Horizont kann man nicht erweitern. In der Savanne, wo homo sapiens sich aufrichtete, lebten die Menschen innerhalb des visuellen Maximalzirkels. Freier als im afrikanischen Grasland kann keine Umsicht sein – später kehrt diese Lage allenfalls auf hoher See wieder oder bei Durchquerungen der Sandwüste, wenn man von hohen Dünen an den Horizont schaut.
    Wer von Horizonterweiterung oder Aufklärung spricht, denkt an die Aufhebung von sekundären Horizontverengungen, wie sie post-afrikanisch in Höhlenbehausungen, in Waldsiedlungen, in Ackerbaudörfern, in Klöstern, in städtischen Zusammenballungen chronisch wurden. Lange Epochen haben den offenen Horizont nicht gekannt, manche Kulturen und Subkulturen kennen ihn bis heute nicht.
    Der Philosoph, was kann er für den Menschen in der Beklemmung tun? Nicht mehr, als die Sicht wieder so offenzulegen, wie sie in der Savanne gegeben wäre. Das ist nicht wenig, zudemnicht immer willkommen, da viele lieber in ihren Tunneln und Panoramen bleiben. Im besten Fall weicht dank philosophischer Intervention die eingeübte Beengung zurück, der Horizont liegt wieder offen da. Das unbehinderte Hinausschauenkönnen nennt man Gelassenheit – ein paradoxer Wert, weil mit ihm das anfangs Selbstverständliche als spätes Ergebnis angepriesen wird.
    Bleibt der Horizont auch nach der philosophischen Bereinigung umzingelt, sitzt der Mensch in der Falle. So dachte der Existentialist ante litteram Leo Schestow. Für ihn (und seine Zeugen: Puschkin, Tolstoj, Tschechow) waren Menschsein und In-der-Falle-Sitzen dasselbe. Wer wissen will, was freie Aussichten sind, sollte besser keine Russen fragen.
    Inwiefern die Biologie bei homo sapiens verquere Wege geht: Die Fixierung der juvenilen Merkmale beim Menschen, bis hin zu der von Louis Bolk so genannten Neotenie, die mysteriöserweise die Beibehaltung mancher fötalen Züge in der menschlichen Physiologie bedeutet, bringt es mit sich, daß der Behaarungsbefehl nicht ausgeführt wird, durch den wir ein dichtes Fell bekämen – wahrscheinlich wird ein hormonelles Signal unterdrückt, das die Behaarung auslösen würde. Dazu muß man bedenken: Neugeborene Affen sind zunächst so nackt wie wir und legen sich ein Fell zu, wenn es an der Zeit ist. Diese Zeit kommt bei uns nicht mehr. Wir bleiben

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