Zeilen und Tage
vergangenen Mai in Paris, als man auf mich von allen Seiten, Verlag, Familie, Veranstalter, Presse, eingeredet hatte: der Gastgeber und so viele andere Leute wären so enttäuscht, wenn du in letzter Minute mit einer Absage daherkommst!
17. Februar, Cambridge Charles Hotel
Ab fünf Uhr früh hört man die ersten Maschinen starten. Die Stadt ruht noch in ihrer abgeblätterten Ostküstenherrlichkeit. Man wacht hier früh auf, wenn man die europäische Zeit im Leib hat. Jetlag und mystisches Wachsein kommen auf eins hinaus.
Schon gestern war bei jedem Schritt durch die Stadt zu sehen: dies ist eine Region, in der für Renovierungen kein Geld mehr aufzutreiben ist. Vor dem Hotel flattern zwei verschmutzte US-Fahnen. Wenn nicht die antigraven Energien des Obama-Effekts, die atmosphärisch wirksam sind, und die scheinbare Sorglosigkeit der Campus-Stimmung spürbar wären, würde man auf eine Zivilisation im rapiden Abstieg schließen.
Um halb sieben am Morgen ist das Fitness-Studio dennoch schon voll von Trainierenden, die sich selbst antreiben, wie Akteure, die heute noch Größeres vorhaben. Der Swimmingpool wird durch Schwimmkörper in Bahnen eingeteilt, als traute man den Schwimmern nicht zu, ohne Kollision und anschließenden Streit der Anwälte aneinander vorbeizukommen.
Zum Frühstück salmon and bagels wie in alten Zeiten. Ich kann mir vorstellen, daß man eines Tages in die USA fahren wird, wie man seit dem 18. Jahrhundert nach Italien fuhr.
Unnötig zu betonen, daß in diesem Professorenhotel alles organic ist. Die eingeschüchterten intellektuellen Demokraten haben auf der Bio-Welle überwintert.
In die Sonne schauen, sagt Bruno, um schneller anzukommen. Mittagessen im getäfelten Faculty Club von Harvard. Zeitreise in eine vergessene Akademia, die großbürgerliche Züge trug. Hier in der Nähe soll William James sein Büro gehabt haben.
Wir besuchen zu dritt – Bruno, Moshen und ich – den Le Corbusier-Bau aus den fünfziger Jahren auf dem Campus. Dann gemeinsam zum Ether Dome des Massachusetts General Hospital in Boston, eine improvisierte Wallfahrt zur Quelle der medizinischen Moderne. Von dem, was hier am 16. Oktober 1846 geschah, der ersten erfolgreichen chirurgischen Operation unter Vollnarkose seit dem Ende des Mittelalters, handelt das Kapitel Oktoberrevolution in Du mußt dein Leben ändern .
Der Auftritt mit Bruno Latour in dem überfüllten Vortragssaal des Harvard Design Departments, das gut 500 Personen faßt, geriet erstaunlicherweise zu einem spektakulären Erfolg, unter anderem weil die Stärken des sphärologischen Denkansatzes – anhand weniger groß projizierter Bilder erläutert – vor dem Publikum aus jungen Architekten, Designern und Urbanisten schnell zum Tragen kamen, im übrigen auch weil ich für die Dauer meiner Präsentation den Jetlag in Schach hielt und ein erträgliches Englisch erreichte, vor allem aber, weil Bruno in Hochform auftrat und sich auf dem Gipfel seiner performativen Fähigkeiten präsentierte. Wir hatten abgesprochen, die beidenReferate jeweils als Verteidigungen unserer bevorzugten Raum-Bilder vorzutragen, Bruno als Anwalt der Netz-Metapher, ich als Fürsprecher der sphärischen Ausdehnungen, die ich Schäume nenne. Der Gastgeber meinte, nun sei zu befürchten, daß die Studenten sich in Philosophie einschreiben.
18. Februar, Cambridge, New York
Wo sonst gibt es sonst noch eine Subkultur, in der die Unfähigkeit, klare Sätze zu bilden, so hoch belohnt wird?
Nach dem migränischen Vormittag geht es an die South Station, von wo kurz nach eins der Zug nach New York City abfährt. An dem Bahnhof ist vom desolaten Zustand des Landes mehr zu sehen als in der City. Wie an Europas Bahnhöfen lassen sich hier die Verlierer blicken, die ihren letzten Dollar in versteckte Fette anlegen.
Auch das ist bezeichnend für die Lage: das kleine First-Class-Abteil ist voll besetzt, während ein halbes Dutzend Business-Class-Wagons leer mitlaufen. Die Unentmutigten hüten sich auch vor den kleineren Zeichen des Abstiegs. Sie verzichten auf Ersparnisse, die dem Selbstgefühl abträglich wären.
Der Zug rollt durch Winterlandschaften, dürre Wälder, unbestellte Felder. Hin und wieder schauen aus dem Gebüsch die billigen Holzhäuser, die niemand mehr kauft. Ärmere Familien suchten hier während der Sommermonate, was von ihren Träumen übrig war. Solche Spanplatten-Hütten tauchen auf, wenn man lange genug nach den vielzitierten Risiken sucht, die in den
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