Zeilen und Tage
wenn man vom Jakobinismus alles vergessen hat.« (156)
»Das Recht auf Einmischung ist das Kind von Hitler mit dem Fernsehen.« (167)
Aus Flaubert zitiert: »Heidentum, Christentum, Spießertum (mufflerie), so heißen die drei großen Entwicklungsstufen der Menschheit. Unangenehm ist es, sich in der letzten zu befinden.« (270)
Debray macht darauf aufmerksam, wie wenig Frankreich zu verstehen ist, solange man sich von der gängigen Ansicht blenden läßt, es habe nach 1940 nur eine Kollaboration gegeben, jene mit dem NS-Regime. In Wahrheit gab es deren zwei, die physische mit den Besatzern und die telepathische mit dem Stalin-System. Aus dieser Sicht wäre Sartre der Prototypus des zweiten Kollaborateurs gewesen, der dem ersten Schlimmsten zu begegnen suchte, indem er mit dem zweiten Schlimmsten sympathisierte. Was für ein Skandal, daß erst Solschenizyn und die boat people in den siebziger Jahren den Franzosen die Augen für den »kriminogenen Charakter des Kommunismus« öffneten! ( Fraternité , 180)
Indem er die »fraternité« als einen »Moment« bestimmt, macht Régis aus ihr eine Augenblicksgottheit – sie besitzt die Konsistenz einer Begeisterung, die sich nach einem geglückten Konzert für einige Augenblicke in einem Publikum verkörpert.
Ob es wahr ist, daß die Redakteure der amerikanischen Verfassung in Philadelphia 1787 die Statuten des Dominikanerordens auf ihrem Arbeitstisch liegen hatten, um darin hin und wieder nachzuschlagen, wie man das macht: einen inspirierten Staat gründen, ein animiertes Gemeinwesen in die Welt setzen?
Die vier primären Soziotechniken: das Fest, das Bankett, derChoral, der Eid sind Formen der sozialen Synthese ohne eigenen Gehalt, sie sind für Feiern zum 14. Juli ebenso verwendbar wie für Versammlungen von Neonazis. Es fällt Debray schwer, seine luziden Warnungen vor der Entgeisterung der »Gesellschaft« hinreichend klar gegen seine riskanten Sympathien für die animierte Kommune gleich welcher Tendenz abzugrenzen. Bezeichnend ist, daß er sich mit dem Terminus »Solidarität« nicht begnügen kann. Er spürt das Unerledigte im Begriff »Brüderlichkeit« und geht weite Wege, um ihn mit überzeugenden Beispielen zu belegen.
Man hat zu bedenken, daß er selber von einer beispiellosen Allianz der Geister profitiert hatte, als er 1970 aus dem bolivianischen Kerker befreit wurde: Damals hatten Sartre, de Gaulle, Paul VI. und Malraux neben zahlreichen anderen ihre Stimme für seine Freilassung erhoben. Es spricht einiges dafür, seine spätere intellektuelle Tätigkeit auch als den Versuch zu interpretieren, jeder einzelnen Stimme in diesem heterogenen Chor gerecht zu werden. Nur so läßt sich verstehen, wie der vormalige Kampfgefährte Che Guevaras sich jetzt für Nationalgeister, Hymnen und Ordensregeln interessiert.
10. Februar, Wien
Am Fall de Maistre läßt sich lernen: es gibt nicht nur einen klerikalen Faschismus, sondern auch einen laientheologischen. Letzterer ist gelegentlich noch flamboyanter als der Aufmarsch der Soutanen. Leider muß man in dieser Reihe auch protestantische Grenzfälle anführen, nicht zuletzt die stramm theologische Auslegung der Russischen Revolution durch Eugen Rosenstock-Huessy, der einen fatalen Kurzschluß zwischen Johannismus und Leninismus vollzog, und dies zu einem Zeitpunkt, als die Mordbilanz der Revolution in der Sowjetunion schon bei über 20 Millionen Opfern lag.
Der Patriarch ist tot, der Fratriarch soll leben. An welche herrschenden Brüder denkt Debray? Fidel Castro? Mitterrand? Benedikt XVI.? Wenn schon die Väter enttäuschten, enttäuschen nicht auch die Brüder?
11. Februar, Wien
Man staunt über die Unverfrorenheit der Spießer, die von einem philosophischen Buch unserer Tage verlangen, was sie von den Reden Buddhas und vom Neuen Testament nicht zu fordern wagen: die unmittelbare Wegweisung für das ganze Leben. Doch wenn du zu schwach bist für die alten Doktrinen, wie kannst du dir einbilden, eine neue könnte es dir recht machen? Alle Welt brennt vor Verlangen nach einer neuen verbindlichen Schrift, doch läge sie vor, man würde an ihr herumnörgeln wie an einer Seminararbeit. Nimm an, es gäbe wider Erwarten ein Buch, das eine Synthese aus dem Deutoronomium , der Kritik der praktischen Vernunft und Krieg und Frieden böte, würde man nicht in ihm lustlos herumstochern? Dem Weisungen-Sucher wäre es zu erzählerisch, dem Romanleser zu argumentativ, dem Ethikfreak zu undeutlich.
Heft 102
11. Februar 2009
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