Zeilen und Tage
Grau.
Aus Coventry ein Brief von Nigel Thrift: Ich soll im kommenden Juli ein Ehrendoktorat der Humanities an der Warwick University entgegennehmen.
Harro von Senger, der Freiburger Sinologe, sendet den von ihm edierten Band mit den Akten des Symposions über die List in Ost und West zu. Mein Beitrag Der andere Logos von vor 2 Jahren, der das Motiv »List der Vernunft« aus europäischer Perspektive behandelt, ist damit öffentlich – was nicht viel bedeutet, da eine Sammelbandpublikation nur den Übergang vom unzugänglichen Ungelesenen zum zugänglichen Ungelesenen markiert.
29. Januar, Wien
Nach Nassim Taleb, Autor des Welterfolgs Der schwarze Schwan , ist die Welt ein Tummelplatz für happy fools, die ihre zufälligen Erfolge zwanghaft als eigene Leistungen mißdeuten. Sein Buch mag frech und redundant sein, doch hat es gewichtige Meriten. Auf die Säkularisation des Erfolgs hat man lange gewartet.
Talebs Theorie des Unwahrscheinlichen weist philosophisch eine Schwäche auf: Sie beschränkt die Unwahrscheinlichkeit auf Ereignisse, indessen es darauf ankäme, das Unwahrscheinliche auch in den Institutionen, den Species, den Serien, den Kulturen zu erkennen. Ein deutscher Mathematiker nennt den flotten Libanesen Taleb die Paris Hilton unter den Analysten, ein epistemologisches Partygirl, das mit der richtigen, wenn auch dürftigen Botschaft auftritt, man dürfe von Induktionsschlüssen nicht zu viel erwarten.
31. Januar, Wien
»Der Mensch ist nicht gut genug, um frei zu sein«, so dozieren seit de Maistre die verbitterten Köpfe des ancien régime , die nicht darüber hinwegkommen, daß Gott die Französische Revolution zugelassen hatte. Aber ließ er sie denn wirklich zu? Nach de Maistre wurde die Revolution nicht von Menschen gemacht, sondern von Automaten, von Somnambulen, von dämonischen Maschinen – hier sieht man die Denkfiguren der älteren kritischen Theorie und die Dogmen der Althusser-Schule schon in vollkommener Deutlichkeit fungieren: Es sind nicht die Menschen, die agieren, es sind die obsessiven Mächte und die unbewußten Strukturen, die durch Marionetten Geschichte machen.
5. Februar, Wien
Man muß wissen, daß der alte Franco 10 Mitglieder des Opus Dei in sein 19köpfiges Kabinett berief, um beurteilen zu können, was es bedeutete, wenn unter Johannes Paul II. die Bevorzugung des Opus Dei vor dem Jesuitenorden irreversibel manifest wurde. Dieser Papst war es, der den Franco-Freund Josemaría Escrivá (1902-1985) im Galopp selig (1992) und heilig (2002) sprach. Nach Escrivá ist das Streben nach öffentlichen Ämternein Teil des Apostolats. »Du bist zum Führer geboren« ist einer der Leitsätze seiner Organisation. Er gab die Devise aus, die Kontrolle der Medien und des Finanzsektors sei mit allen Mitteln anzustreben. In dieser Hinsicht ist das Opus Dei nur mit der szientologischen »Kirche« zu vergleichen.
Johannes Paul II. und Escrivá waren hinsichtlich ihrer sakral-elitistischen Persönlichkeitsstruktur enge Verwandte. Beide agierten einen Heiligkeitskomplex aus, der mit der imitatio Christi wenig, mit den Phantasmen der Modernitätsverhinderung à la Franco viel zu tun hatte.
Im Fernsehen ein Film, der die Lebensgeschichte des Kollaborateurs Paul Touvier zur Vorlage hat. Der Mann lebte 43 Jahre lang auf der Flucht vor der Justiz und wurde in all dieser Zeit von rechtsradikalen Priestern in abgelegenen Klöstern versteckt. Er starb 1996 im Alter von 81 Jahren und wurde beerdigt – von wem wohl? Von Mitgliedern der Pius-Bruderschaft in Paris.
Im Vorfeld der Reise nach Boston gibt es Gelegenheit, sich mit dem letzten Gruß der Bush-Administration auseinanderzusetzen. Das neue ESTA-Einreiseformular verlangt von jedem Besucher der USA, daß er oder sie einem polizeilichen screening zustimmt. Georges Dabbelju hatte a new era of responsibility versprochen. Was kam, war die Allianz des Sekuritätskomplexes mit der elektronischen Bürokratie.
6. Februar, Wien
Angeblich hat man für Schauspieler, die den Oscar erhielten, eine um 5 Jahre höhere Lebenserwartung errechnet als für die große Schar der Oscar-Habenichtse. Beim Nobelpreis dürften Korrelationen zwischen Preisgewinn und Lebenserwartung schwerer zu erheben sein, weil dieser Preis zumeist schon eine gerontologische Aussage impliziert. Eher dürfte von Glück sagen, wer ihn fünf Jahre überlebt.
Régis Debrays Buch Le moment fraternité , eine Fundgrube für klingende Sentenzen.
»Der Parisianismus ist das, was übrigbleibt,
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