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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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so minimal behaart, daß man mit einiger Berechtigung sagt, wir seien nackt – was man von keinem erwachsenen Tier behaupten würde. Auch der Schnauzenbildungsbefehl wird nicht mehr ausgeführt, wir behalten die infantilen Gesichter und können uns von Angesicht zu Angesicht anschauen. Der Befehl, die weiblichen Genitalien, die bei den weiblichen Jungaffen wie bei den Menschenfrauen zuerst vorne in subventraler Position liegen, in die hintere, subcaudale Position zu verschieben, wird ebenfalls nicht mehr beachtet.
    Von der Biologie der Befehlsverweigerung versteht man noch wenig. Es scheint, der Menschenkörper antwortet auf die Anordnungen der animalischen Natur, die zu einem erwachsenenTier führen sollten, mit der Melvilleschen Formel: »I would prefer not to.« Mit der Weigerung, ein Fell zu tragen, beginnt die Mutation zum nackten Affen, der Amulette und Seidenstoffe bevorzugt.
13. Februar, Karlsruhe
    Nichts spricht so sehr für Darwin wie die Tatsache, daß Nietzsche ihn ernst nahm. Vielleicht hat er in ihm den Leidensgefährten gewittert, den Mann, der ohne Rücksicht auf die eigene Krankheit für ihn selbst bestürzende Wahrheiten herausfand und festhielt. Zwei kranke Männer haben alles umgeschrieben, was man seit Jahrtausenden über das Leben und seine religiösen Hüllen gedacht hatte. Beide litten an »Seltenen Krankheiten«, die vom Heilungswissen ihrer Zeit weder bestimmt noch behandelt werden konnten.
    Essay
    Das Opfer und die Steuer
    Für eine immunologische Theorie der Zivilisation
    Historische Aufzählungen beginnen mit den Königlisten. Wirkliches Erzählen setzt ein, wenn man rekapitulieren muß, wie die Dinge schiefgingen. Auch die Philosophie wird erzählend, nachdem sich erwiesen hat, wie die Sache des Denkens schon bei den Griechen in die Sackgasse lief.
    Was die Moderne wollte, versteht man besser, wenn man die Nichtmoderne im Auge behält. Eine ihrer Schlüsselfiguren während der letzten Jahrzehnte war Marcel Lefèbvre, der Gründer des dubiosen Seminars von Ecône und Ziehvater einer Brut von katholischen Trotzköpfen. Er nannte das Zweite Vaticanum, bei dem er, wie man liest, zweideutig mitgewirkt hatte, nachträglich eine »Vermählung von Kirche und Französischer Revolution« –womit er witzigerweise nicht so sehr unrecht hatte. Er wollte allerdings sagen, die Kirche habe sich am Ende doch zum Teufel ins Bett gelegt und lasse sich von ihm monströse Kinder machen. Mit dieser Zuspitzung verfehlte er den Punkt.
    Worum war es beim Zweiten Vaticanum gegangen? Die Zeit war reif geworden, dem Katholizismus nach einer fast zweihundertjährigen Trotzphase wieder etwas mehr Gegenwartsfähigkeit zu verschaffen. Auch jeder Nicht-Katholik versteht das mühelos. Selbst die isoliertesten Insassen der heiligen Anstalt – mein Großvater nannte sie mit gespielter Empörung gern »die Kuttenbrunzer« – müssen damals gespürt haben, daß es so nicht weitergehen konnte. Ausschlaggebend für die Wende war: Johannes XXIII., der menschlich normalste Papst seit mehr als einem Jahrhundert, hatte von den Spinnern im vatikanischen Narrenkäfig ein für alle Mal genug.
    Um Abhilfe zu schaffen, sah sich der Heilige Stuhl genötigt, seinen Dogmen-Krieg gegen die »Pest des Liberalismus«, den die Päpste mit den antimodern aufgespreizten Kampfnamen Gregor, Leo und Pius ausgefochten hatten, für beendet zu erklären. Die Kirche hatte das Privileg, nicht lernen zu müssen – so definiert Karl Deutsch das Phänomen Macht –, verloren. Sie war noch mächtig genug, ihr Lernenmüssen in eigene Regie zu nehmen. Mit der Einberufung des Konzils begann der seltsamste »Lernprozeß« der Moderne, bei dem der Wunsch, so wenig wie möglich lernen zu müssen, den Lehrplan diktierte.
    Lefèbvre, Gründer der Pius-Bruderschaft – man beachte den sturen Namen Pius und halte die geisttheologisch anmaßenden, nahezu putschistischen Namen Paul und Johannes dagegen –, besaß die Witterung des integralen Reaktionärs. Mit der leisen Stimme des Aufrührers behauptete er, Paul VI., der das Konzil zu Ende führte, habe der katholischen Kirche mehr geschadet als die Revolution von 1789. Er machte kein Geheimnis aus seinen Sympathien für all das Verrottete und Abgestandene, das von der Action française, vom Pétainismus und vom Franco-System zu seiner Zeit noch übrig war. Vollends entlarvend waren seine Verbindungen zum jüngeren Front national. Von Le Pen ließ er sich loben, ohne zu erröten. Er suchte, wo er konnte, nach

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