Zeilen und Tage
Relikten einer Staatsidee, wonach der Staat nicht viel mehr als der Pedell der Kirche wäre – damit beauftragt, die substantielle Kommune bei der Stange zu halten.
Am meisten bezeichnete ihn seine Bockigkeit im Gehorsam: Wie alle reaktionären Rebellen leugnete er seinen Aufstand konsequent ab. Er blieb hartnäckig bei der These, er sei nichts als ein Diener der Tradition, er erfinde nicht, er verändere nicht, er bleibe in der wahren Spur. Es sei das Papsttum selbst, das den Pfad zum höllischen Mißverständnis eingeschlagen habe. Seit 1517 hat sich dieser Ansatz bei Kirchenspaltungen bewährt. Nach Luther kann jeder, der es wissen will, verstehen, wie, wann und warum dienen und rebellieren dasselbe bedeuten.
16. Februar, Frankfurt – Boston
An Bord der LH 422. Die inneren Verhältnisse hätten es nahegelegt, daß der Patient sich für ein paar Wochen zur Erholung an einen Badeort zurückzieht, die äußeren haben ihn wieder einmal soweit gebracht, daß er im Zug zum Flughafen sitzt. Beides ist da, die Müdigkeit bis zum Heimweh nach dem Anorganischen, und die verrückte Bereitschaft, trotzdem wieder hinauszugehen.
Wozu verlangte man in der früheren Aufklärung die Gedankenfreiheit? Im Rückblick drängt ein Verdacht sich auf: vielleicht um mit besserem Gewissen gedankenlos leben zu können.
Es ist nicht leicht zu sagen, was verheerender ist, das Dasein unter einem System von Zwangsideen, wie Staatskleriker und totalitäre Ideologen es bis vor kurzem den von ihnen beherrschten Populationen auferlegten, oder eine Existenz im polymorph geistlosen Raum, in dem zwischen Personen und Ideen keine engeren Beziehungen mehr entstehen – ausgenommen die formalen »Überzeugungen« und normalen »Erwartungen«, die zumBetriebssystem von ansonsten geistabgewandten Individuen gehören. Faktisch haben wir uns im Lauf des 20. Jahrhunderts in der Mehrheit für die zweite Alternative entschieden und stellen das Laß-mich-in-Ruhe-Axiom an die Spitze der Werte.
Die nervlich schlimmeren Tage der letzten Jahre haben gemeinsam, daß ich an ihnen öfter Nietzsches Satz vom lebend Verbranntwerden auf grünem Holz zitiere. Zu solchen Zeiten bewundere ich die robuster zusammengeschraubten Mitmenschen, denen man anmerkt, sie wollen sich keinesfalls von der Klippe stürzen, nicht heute und auch morgen nicht. An solchen Tagen entsteht ein Gefühl von Verbundenheit mit den einfachen Leuten, eine Brüderlichkeit ohne französischen Akzent, eine Zugehörigkeit zu denen, die es auf ihre Weise aushalten, Hinterbliebene zu sein.
Das enterbte Leben: Seit du denken kannst, mußtest du von vorn anfangen, als ob es keine Vorfahren gäbe. Du bist der erste Mensch, du bist Adam. Deine Sünde besteht nicht in der Übertretung eines Verbots, deine Vertreibung aus dem Garten ist keine Folge eines eigenen frühen Fehlers. Daß du der erste Mensch sein mußt, liegt daran, daß die Kette des Lebens gerissen war, bevor du zur Welt kamst. Also mußtest du irgendwo neu anfangen, ohne Helfer in direkter Linie auf deiner Seite zu haben.
Es ist alles eine Frage der Zuvorkommens: ob dir eine lebbare Tradition zuvorgekommen ist oder ob dir der Bruch zuvorkommt. Im letzteren Fall mußt du ein großes Feuer anzünden und hineinwerfen, was du prüfen willst. Dieses Feuer ist das Denken, das die Akademiker mit dem Fach Philosophie verwechseln. Was in den neuen Lebensversuch mitgenommen werden kann – man wird es nach der Feuerprobe sehen.
Die Stewardeß gibt bekannt, die Maschine wird in wenigen Minuten auf dem Flughafen von Boston landen. Klarstellung in eigener Sache: Ich bin auf gar keinen Fall gekommen, weil ichhier Vorträge halten wollte. Seit jeher lag es mir ziemlich fern, für meine Arbeit Interesse wecken zu wollen, ich stamme aus einer Zeit, in der die Autoren dummerweise dachten, die Leser müßten sich auf den Weg zu den Büchern machen, nicht die Verfasser auf den Weg zu den Lesern. Warum also bin ich zu dieser gottverlassenen Jahreszeit hierher gereist? Weil ich aus einem idiotischen Grund das Programm nicht absagen konnte, das mit meiner vagen Einwilligung, doch letztlich wie über meinen Kopf hinweg gesponnen worden war.
Beiläufig dürfte die Spekulation mitgespielt haben, wonach es auch an verstimmten Tagen meistens besser sei, das verabredete Pensum zu erfüllen. Das ist die Moral des alten Zirkuspferds: wenn schon zusammenbrechen, dann mitten in der Nummer. Das alles erinnert sehr an die letzte Reise, die völlig zur Unzeit kam –
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