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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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deprimierte Zettelausteiler und müde Werber für Gewinnspiele mit fabelhaften Glückschancen. Stark besucht sind den ganzen Vormittag über die Frühstücksrestaurants, in denen informell gekleidete Leute vor überladenen Tellern sitzen, wie um zu beweisen, daß man auch in der Krise den Tag am besten mit einem Anstieg auf steile Kalorienberge beginnt. Da und dort nimmt man die besseren Adressen wahr, wo die Leute mit den Siegergesichtern verkehren. Frauen im hellen Kostüm schreiten hochhackig vorbei, das Charme-Programm schon eingeschaltet. Diskutierende Männer mit zum amerikanischen Pseudobaß abgesenkten Stimmen bringen Dinge vor, die nicht ungesagt bleiben sollten.
    Mittags im Jean Georges im Erdgeschoß des Trump Tower am Columbus Circus mit einer Freundin, die im Anschluß an das Studium in Karlsruhe nach NY gegangen war. Sie ist eine wirkliche Amerikanerin geworden und blickt nur kopfschüttelnd auf die larmoyante Verwöhntheit ihrer in Deutschland gebliebenen Kommilitonen zurück
    Abends die Lesung You must change your life am Heyman Center for the Humanities, umgeben von gutartigen Anregbaren, die den Raum überfüllen, aber auch von nicht wenigen Leuten, die nie zugeben würden, daß sie Neues gehört haben. Mit Akeel Bilgrami und Kollegen danach in einem Lobster-Lokal. Man redet davon, daß ich an der Columbia künftig jedes Semester, oder jedes zweite, ein Seminar geben könnte. Ich sage, warum nicht? Es gelingt mir nicht, an die Hypothese zu glauben.
22. Februar, Karlsruhe
    Zurück im eigenen Milieu. Du solltest jetzt wissen, was du nie mehr tun wirst.
    Tauwetter. Im Garten vor der Küche stehen Schneeglöckchen zum Aufblühen bereit. Pläne zu neuen Büchern.
    Das Weltaugen-Buch. Über die in Organismen zerstreuten Bewußtseine.
    Ein und derselbe Weltzustand sieht völlig anders aus, je nachdem ob man ihn vom Chaos aufwärts ansieht ober vom Ideal abwärts. Aus der ersten Perspektive ist jeder Ansatz zu einer Ordnung ein Wunder, aus der zweiten erscheint noch die bestmögliche Wirklichkeit als ein Skandal.
    Immer wieder den Blick auf Vorgänge im gegenmodernen Lager richten, um nicht der Illusion zu erliegen, die ganze Welt sei im liberalen modus vivendi angekommen, nur weil man sich selber ausschließlich in emanzipierten Milieus bewegt. Luise Rinser schreibt in ihrem Nordkoreanischen Reisetagebuch : »Christus ist ausgewandert nach Nordkorea!« Woher sie das weiß, da sie nur ein paar Tage da war?
    Viel bemerkenswerter ist, daß Johannes XXIII. den düsteren Stigmatikus Padre Pio verabscheute. Er hielt ihn für einen betrügerischen Psychopathen, ja, für den Urheber eines diabolischen »Desasters der Seelen«. Johannes Paul II. hingegen sprach Pio 30 Jahre post mortem selig und wenige Jahre danach heilig – er paßte einfach zu gut in das expansionistische Konzept des polnisch regierten Vatikans, der sein Sakralkapital durch hastige Seligsprechungen und spekulative Heiligsprechungen en masse aufstockte.
    Eine TV-Celebrity in England soll während einer populären Show die Meinung geäußert haben, Rio de Janeiro sei ein Mann, den sie aber nicht persönlich kenne. Die ehemalige Schule des Mädchens veröffentliche bald danach eine Erklärung, wonach dieser Informationsstand für ihre Absolventen nicht typisch sei.
    Nietzsche nennt August Comte einen Jesuiten, der seine Franzosen auf dem Umweg über die Wissenschaft nach Rom führen wollte.
23. Februar, Karlsruhe
    Kafka 1914: »Karlsbad ist ein größerer Schwindel als Lourdes.«
26. Februar, Karlsruhe
    Unsere Studenten sind wie kostbare Ming-Vasen, ein kritisches Wort, und sie haben einen Sprung. Sie wollen vorsichtig transportiert werden, um ohne Schütteltrauma durch die formativen Jahre zu kommen.
28. Februar, Wolfsburg
    Aus den vielen Büchern über die 68er Jahre ragt der Bericht von Stephan Wackwitz Neue Menschen turmhoch hervor. Der Autor, ich traf ihn am Rand der Lesung an der Columbia, erzählt präzise und ohne Schonung der eigenen Person von seiner gnostischen Zeit beim MSB Spartakus in Stuttgart und von den begeisterten Verblendungen, die den Zusammenhalt der Sekte bewirkten – um das Resümee zu ziehen, er sei mit gerade noch reparablen »Schäden an Geist, Leib und Seele« davongekommen. Dankbar sei er dafür, daß er sich nur lächerlich, nicht strafbar gemachthabe. »Lächerlich oder strafbar«, das wäre ein wirksamer Titel für eine Dokumentation über die Schicksale der spekulativen wie der gewalttätigen Linken in Deutschland

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