Zeilen und Tage
postpersonale Welt herauf, deren Agenten ihre Erinnerungen als Eräußerungen aufbewahren.
14. März, Badenweiler
Nach leichter Anreise zu einem kurzen Kuraufenthalt im Römerbad eingetroffen, im Gepäck einiges über Deleuze sowie von Régis Debray Les communions humaines. Pour en finir avec »la religion «, 2005, ein Werk, in das ich einen Blick werfen will, nachdem mir die Lektüre des jüngst erschienenen Buchs Le moment fraternité vom selben Autor bei aller Sympathie Unbehagen bereitet hatte.
Debray, so schien mir, hat erfaßt, daß Begriffe wie »Religion« und »Brüderlichkeit« für den Soziologen nur Hilfsbegriffe sein können, um das Rätsel des sozialen Bandes in Großgruppen zu beschreiben. Man kommt in diesen Angelegenheiten nicht weiter, solange man bei den Alltagsinhalten der genannten Begriffe stehenbleibt. Man bräuchte einen epistemologischen Bruch, radikal genug, um das alltägliche Wissen theoretisch von Grund auf zu verfremden. Wie ein solcher Bruch zu bewerkstelligenwäre, sei es durch eine System-Umwelt-Theorie im Luhmann-Stil oder durch eine Stress-Kooperations-Theorie der Kultur à la Mühlmann, davon hat er keine Vorstellung. So gelangt er als intuitiver Funktionalist nicht hinaus über eine Fülle von wertvollen Einzelbeobachtungen zu Nähe-Erfahrungen in größeren Gruppen, für die sich ein überzeugender theoretischer Rahmen nicht finden läßt.
Wenn ich lese, daß Deleuze, dem man eines der besten jüngeren Bücher über Leibniz verdankt, diesen Denker »extrem reaktionär« nannte, weil er den Optimismus intellektuell vollendete, keimt ein beklemmender Verdacht auf. Ist es nicht ein milieubedingter Automatismus, einen Ausdruck wie »reaktionär«, der erst nach der Französischen Revolution halbwegs sinnvoll wurde, auf einen Denker des Barockzeitalters anzuwenden? Wie konnte Deleuze eine so mitläuferische, so mediokre, so absurde Floskel unterlaufen? Gehört ein Sprachspiel dieses Niveaus in eine philosophische Rede? Ist sie nicht eher in stickigen Kumpaneien zu Hause, bei denen Gleichgesinnte von einst sich auf die Schulter klopfen?
Durch eine einzige Wendung wird das Bild des Denkers katastrophisch klargestellt: Da steht auf einmal ein mittlerer Franzose vor der Klasse, von Kopf bis Fuß auf linksradikales Philistertum eingestellt, stolz darauf, nie negativ gedacht zu haben, sondern trotz prekärer Gesundheit immer von einem »unüberwindlichen Leben« »durchschossen« gewesen zu sein.
Was Vitalität unter fragilen Prämissen meint, verstehe ich ziemlich gut. Was mich an dem im Deleuze-Milieu umgehenden Gerede vom Nomadentum seit jeher nervös gemacht hat, begreife ich plötzlich besser. Was sind denn diese hochgelobten Nomaden anders als Spießer, die ihre Nichtseßhaftigkeit wie einen beneidenswerten Vorzug vor sich her tragen? Und sind nicht sogar die hochgelobten Rhizome, die sich immer nur horizontal vermehren und lateral vernetzen, die Spießer unter den Pflanzen? Wie Deleuze sie schildert, wären sie tendenziöse Gewächse, dieallem, was senkrecht sprießt, eine Absage erteilen. Hat nicht Deleuze mit seinem antivertikalen Affekt dem Spießertum die philosophischen Weihen verschafft?
15. März, Badenweiler
Man tyrannisiert ältere Männer ständig mit Drohbegriffen wie erektile Dysfunktion. Wie man mit ihnen konstruktiver spräche, läßt sich beim Rentenrecht für Angestellte ab 55 ablesen. Wie wäre es mit Altersteilzeit für gewisse Organe?
Deleuze der Große, trotzdem. Er befreite das französische Denken von den Stereotypen des Cartesianismus. Clarté d’abord?, das war einmal. Jetzt wird die Philosophie auf die Seite des Schöpferischen gezogen, was keine so üble Sache wäre, wenn dabei nicht der letzte Rest an Kontemplation, der sich im Bekenntnis zur clarté verbarg, in Gefahr geriete.
Kritik der schnellen Vernunft. Wenn ein Gott auf diesen Goethe – besser: auf die Diesdaheit gleichen Namens – blickt und in ihr uno intuito sämtliche Prädikate erkennt, die von Goethe ausgesagt werden können, was ist er dann dieser Gott selbst? Ist er nicht ein fauler Monarch, der einen fertigen Goethe auf einen Schlag erfaßt – so wie ein Barcode-Leser einen Mikrokosmos an Daten in einer hundertstel Sekunde registriert? Goethe selbst war eine Kraft, die alles tat und immer wieder tat, was nötig war, um aus einem unfertigen Goethe einen weniger unfertigen zu machen.
Das Prinzip des höheren Lebens ist übender Fleiß. Geboren sind wir schon, zur Welt aber kommt
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