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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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sichtbar würde? Ob man sie »Anti-Cahiers« betiteln könnte?
    Höflichkeit ist ein Tribut an die Sterblichkeit. Du siehst, mit den anderen geht’s aufs Ende zu, Zeit spielt da keine nennenswerte Rolle, du senkst den Ton, alles übrige folgt aus dem Leisewerden. Die Unhöflichen bleiben laut und trampeln durch die abgedunkelten Zimmer.
    Wie unmenschlich ist das Zitieren. Man übernimmt so leicht bequeme Funde aus den Vorräten eines Autors, der vor uns lebte. So gut wie nie kommt einem in den Sinn: Dieser Satz, den der Verfasser vormals zu Papier brachte, war in einer Minute seines Lebens seine Gegenwart.
    Jane Fonda sagt: »You can have a big dog if you are married to a rich man with a plane.« Sie hätte es anders ausdrücken können: Eine Frau mit einem großen Hund und einem reichen Mann schiebt die Trennung hinaus, aber nicht die vom Hund.
6. März, Karlsruhe
    Anläßlich seines 65. Geburtstags kommt Peter Weibel zu einem Diner zu uns nach Hause. Margit und Regina sind da, Wolfgang liegt noch in der Klinik. Etwas später stößt Uta zur Runde dazu, geistesgegenwärtig, leuchtend, Prototyp der genialen Frau, die in ihrer Zugewandtheit zu ihren Lieben und Nicht-so-Lieben ein nicht ganz ungefährliches Element von Verspieltheit an den Tag legt, die weibliche Version von romantischer Ironie.
    Man hört so oft, das Leben sei ein vom modernen Staat gesichertes Grundrecht, das bei uns seit 1789 gilt und hoffentlich bald auch im Rest der Welt in Kraft treten möge. Die Worte hör ich wohl, allein … es kommt mir vor, man hat bereits das Entscheidende verfehlt, wenn man anfängt, so zu reden.
    Ist nicht das eigene Leben in erster Linie eine Behauptung aus dem Nichts? Ist es nicht letztlich eine unmotivierte Anmaßung,für die allein du selber einzustehen hast? Denk an die vielen, die dir nicht nachtrauern würden, solltest du in wenigen Minuten das Zeitliche segnen. Du solltest begriffen haben, daß hinter deiner Existenz keine Lobby steht. Keine Rechtszusage hält dich am Leben, es ist nur deine eigene von Tag zu Tag erneuerte Unverfrorenheit, die dich weiter auf dem Posten bleiben läßt. Würdest du die Behauptung, da zu sein, nicht aufrechterhalten, man würde dich nach 24 Stunden formlos beseitigen.
    Ich bin sicher, Nietzsche hatte Beobachtungen dieser Art im Auge, bis er sich auf die viel zu robuste These vom Willen zur Macht einließ. Sie brachte ihn ab von den subtileren Spuren, denen er in der Periode seiner aphoristischen Arbeiten gefolgt war. Doch sogar in der Zeit, in der er mit der unhandlichen Großbehauptung vom Machtwillen experimentierte, fehlt es bei ihm nicht an Äußerungen, die auf die diskrete Linie zurückführen. So bekennt er gelegentlich, er wisse aus eigener Erfahrung gar nicht, was das heißt: etwas wollen, auf etwas aus sein, um alles in der Welt etwas erreichen müssen. Mit Macht und Willen hat das Am-Leben-Sein nur in den Sonderfällen zu tun, wenn Expansionsideen durch einen übermotivierten Akteur auf die Wirklichkeit übergreifen. Das alltägliche Dasein hat andere Farben. Es gleicht der Aufstellung einer grundlosen Behauptung, die in ein Geburtsregister eingetragen wurde.
    Sarkozy möchte an französischen Hochschulen ein neues, stärker ergebnisorientiertes System der Forschungsfinanzierung implantieren. Durch die Blume tadelt er die vorgebliche oder reale Ineffizienz der französischen Wissenschaftskultur, indem er auf sinkende Zahlen bei den Patenten hinweist. Bei den Betroffenen Beleidigung auf der ganzen Linie. Die Professorenschaft, von Evaluierungsdrohungen provoziert, geht auf die Barrikaden und kämpft mit Zähnen und Klauen für die unvergleichlichen Vorzüge des Bestehenden.
    Du wirst nie ins Memoirenalter kommen wie die erledigten Menschen deines Alters, falls Memoiren schreiben heißt, den äußeren Menschen schildern, der man war. Du bleibst im Werden wie ein Siebzehnjähriger, autoerotographisch, autonoographisch, autopathographisch, nur ohne das grenzenlose Guthaben an Leichtsinn und Unsterblichkeit, mit dem sich die Jungen schöne Tage machen.
    Antimodernismus an der zweiten Front: Begann heute die Lektüre des im Nahen Orient weitverbreitete Buches Milestones aus der Feder des islamistischen Ideengebers Sayyid Qutb (1906-1966). Nach wenigen Kapiteln ist der Leser benommen, ja fast betäubt von dem autohypnotischen Qualm einer Persönlichkeit, die ihre Phantasmen hinschreibt, als wären sie Zeichen spiritueller Berufung, während sie kaum mehr als neurotische

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