Zeilen und Tage
über, wenn der Dienstherr die Seinen auf Abwege schickt.
Catastrophe, nous voilà! Ein verwirrter Jugendlicher hat eben in der kleinen schwäbischen Stadt Winnenden sich selbst und eine größere Anzahl von Mitschülern und Lehrern mit einer Sportwaffe, die seinem Vater gehörte, umgebracht. Sofort ist evident, daß alle außer dem Täter schuld sein müssen. Auch wenn man noch nichts Näheres weiß, weiß man eines ganz sicher: Der Täter ist zu klein für seine Tat. Andere Agenturen haben durch ihn gehandelt – in solchen Momenten denkt alle Welt mediumistisch. Was ist in ihn »gefahren« – was hat ihn besessen, welche Gegenmacht hat es nicht verhindert? Warum waren die Eltern keine Exorzisten des Sohns?
Binnen weniger Stunden versammelt sich die Nation vor den Bildschirmen, um dem abscheulich Erhabenen die Reverenz zu erweisen. Der Einberufungsbefehl zur Terrorandacht erreicht das ganze Volk schnell wie die pfingstliche Offenbarung. In der FAZ wird die ARD getadelt, weil sie nicht wie alle anderen Stationen sofort eine Sondersendung zum Amoklauf ins Programm stellte. Das ist die eigentliche Information des Tages: Wer bei der Weitergabe der Schockwelle zögert, ist keiner von uns. Da sieht man erst, wer »Wir« eigentlich sind: die Leute, die beim Appell zur Betroffenheit »hier« rufen.
12. März, Karlsruhe
Schon wieder tut sich was an der antimodernen Front: Benedikt XVI. hat die von seinem Vorgänger verhängte Exkommunikation der Pius-Brüder rückgängig gemacht – dummerweisegenau in dem Moment, in dem die Eseleien eines Pius-Bischofs namens Williamson in den Medien ausgebreitet werden. Der hielt es für schlau, die Existenz der Öfen von Auschwitz in Frage zu stellen. Warum kamen wir nicht schon früher darauf? Die Juden selbst erfanden die Legende von der Judenvernichtung, um guten Katholiken ein schlechtes Gewissen zu machen! Bei den liberal verseuchten Windbeuteln in Rom mochte das Eindruck hinterlassen, nicht bei den unbetrüglichen Pius-Brüdern!
Jetzt ist halb Deutschland wegen des Papsts verlegen, man schämt sich, nach seiner Wahl einen Augenblick lang stolz gewesen zu sein, als hätte man nicht wissen müssen, daß ihn das Amt nicht verändern würde.
Da helfen historische Analogien nicht weiter. Vor 70 Jahren traf Pius XII. eine vergleichbar mißratene und ähnlich skandalöse Entscheidung, als er die Verdikte seines Vorgängers gegen die Action Française aufhob: 1926 hatte Pius XI. statuiert, die Mitgliedschaft in der Action sei mit dem katholischen Glauben unvereinbar; 1927 wurden die Gefolgsleute der Action vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen. Unter dem Druck der politischen Lage von 1939 hielt Pius XII. es nicht für ratsam, an diesen Dekreten festzuhalten. Katholische Realpolitik hatte auch damals ihren Preis, und ein paar faschistische Hostienschlucker mehr oder weniger sollten den Himmel nicht zorniger machen als üblich. Im übrigen hatten die römischen Verdikte bei den betroffenen Franzosen wenig Eindruck hervorgerufen. Die Überhöhung des Papsttums blieb der Eckpfeiler der Action, die sich ultrakatholisch präsentierte, wenngleich sie auf einen paradoxen atheistischen Papst-Monarchismus eingeschworen war. Hier, bei den französischen Jungkonservativen, waren wildgewordene Söhne am Werk, die brüllten: Was ein Heiliger Vater ist, entscheiden wir! In diesem Milieu hatte sich der junge Lacan bewegt, bevor er auf die psychoanalytische Spur kam. Man fragt sich nur, in welcher Blase hausgemachter Irrealität Benedikt schwebt, wenn er meint, er müsse die bösen Pius-Buben wieder ans Vaterherz drücken.
Die Formel »Umwertung aller Werte« ist so aktuell wie nie zuvor, auch nachdem Nietzsches große Operation, die Ersetzung der metaphysischen Weltverneinungswerte durch die vitalen Bejahungswerte, weitgehend abgeschlossen scheint – obschon unter Eliminierung des von Nietzsche betonten tragischen Aspekts, der dem Akzent auf Wohlbefinden weichen mußte. Jetzt ist ein anderes Umwertungsgeschehen in Gang gekommen. Das betrifft die Beziehung zwischen externen und internen Speichermedien – den Festplatten einerseits und den Nervensystemen andererseits. In technischer Sicht ist die Verbilligung von äußerem Speicherplatz das Hauptereignis der Gegenwart. Die lebenden Gedächtnisse werden in diese Entwicklung hineingezogen. Was für Folgen das hat, ahnt man, wenn man sich klarmacht, daß die lebenden Gedächtnisse üblicherweise Persönlichkeiten heißen. Nun zieht die
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