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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Podiumsgespräch nach meiner halbstündigen Lesung bestens vorbereitet und brachte den Dialog mittels einiger souverän gewählter Zitate sofort auf einige Höhe. Als ihren »Lieblingssatz« aus dem Buch nannte sie: »Hiermit trete ich aus der gewöhnlichen Realität aus.« Am meisten verwunderte mich, daß sie eine tief im Buchinneren versteckte Sentenz entdeckt hatte: »Verhalte dich jederzeit so, daß die Nacherzählung deines Werdegangs zum Muster einer allgemeinen Vollendungsgeschichte werden könnte!« Was hat die schöne Kluge mit einem so gefährlichen Satz vor?
19. März, Wien
    Müssen die Herrschenden die Beherrschten lieben? Im Gegenteil. Caligula meinte, hätte das römische Volk nur einen Kopf, er würde ihn abschlagen lassen.
    »Und die Nase mir haltend, ging ich unmutig durch alles Gestern und Heute.«
    In Österreich der Fritzl-Prozeß, in Deutschland die Nach-Amok-Hysterie, in Europa das Krisengipfel-Gekeife.
    Daß Miriam Meckel gestern auf den Passus »Ekelübungen« in dem Buch zu sprechen gekommen war, freut mich noch immer.
20. März, Wien
    Unorthodoxe Meditationstechnik vor dem Fernsehgerät: mit dem Bildschirm ko-indifferent werden.
21. März, Wien
    Kühler Frühlingsanfang. Träume beim Nachmittagsschlaf von einem großen Dachstuhl, in dem viele Menschenpaare in hellgrauen Schlafanzügen sich langsam von ihren Lagern aufrichten, als hätten sie einen Weckruf oder ein Zeichen der Auferstehung vernommen. Ein Bild hatte eine merkwürdig heimatliche Tönung, als könnte jetzt wieder alles in die gute Richtung gehen.
    »Überlaufen wie der Gladiatorenfriedhof von Ephesos.«
23. März, Budapest
    Spiegel müssen nicht immer glatt sein. Auch Zerrspiegel tun gute Dienste. Nichts verzerrt mehr als die Wiedergabe eines Selbst in einer anderen Subjektivität. Daher stellt sich von alters her die Frage, wie entzerrt man Subjektivität? Die klassische Antwort: durch Angleichung an den ganz Anderen – indem man das ungleichmäßige Ich zur Unterwerfung unter das absolute Gegenüber überredet.
24. März, Budapest
    Der erste Eindruck: Hier ist die seelische Niedergeschlagenheit an der Macht, die auch als die Mutter der Unhöflichkeit bekannt ist. Wer es in einem solchen Land aushalten will, muß sich damit abfinden, aus dem Paradies der Bedeutsamkeit vertrieben zu sein. In dieser Hinsicht bildet Österreich-Ungarn wieder eine Einheit. Ein Schleier der Verkommenheit liegt über der neo-kakanischen Union. In beiden Ländern gilt nicht das Prinzip too big to fail, vielmehr die Gegendevise: too small to bother, zu klein, um sich darüber aufzuregen.
    Das allgegenwärtige Schlaumeiertum der lokalen Überlebenskünstler tut den Rest, um Institutionen und Prinzipien zu zersetzen. Ohne Improvisation kommt hier niemand zurecht. Ein melancholisches Land ergibt ein Puzzle aus Nischenexistenzen, gemütlichen Parasitismen und Mikrokorruptionen. Überdies scheint mir, nirgendwo sonst in Europa sieht man so viele Frauen mittleren Alters, an denen die Einladung zur Erotisierung ihrer Erscheinung so spurlos vorübergegangen ist. Sie legen eine Hauskittelästhetik an den Tag, die ich noch von meiner Großmutter kannte, und von den Putzfrauen am Wittelsbacher Gymnasium in München in den sechziger Jahren, die wir im Abiturjahr kennerisch als Putzlappengeschwader apostrophierten. Zugleich sind diese Frauen von einer gewissen Freiheitsatmosphäre umgeben, wie sie der Resignation entspringt, einer Haltung, die mit vergnügter Schlamperei gut zusammengeht. Witzigerweise begegnet man den von den üblichen Schönheitszumutungen entlasteten Damen vor allem im Umfeld des Gellert-Salons, der sich als »the most exclusive beauty farm in town« präsentiert.
    Die Stadt erlaubt uns diesmal eine Begegnung mit dem historischen genius loci, insbesondere in der Innenstadt, nahe dem ominösen Café Central, wo vormals kluge Leute verkehrten. Trotz des Grauschwarz über den alten Jugendstilfassaden verrät die Architektur etwas vom einstigen Selbstbewußtsein derMetropolenbewohner. So viele Plätze, so viele Innenhöfe und Durchgänge, so viele große Restaurants gab es sonst nur in den Weltstädten. Noch ist die jüngere Konsumismuswelle nicht bis in die letzten Ritzen durchgedrungen. Die alte Mehrsprachigkeit ist zerfallen, eine neue noch nicht weit verbreitet. Jetzt leben die vielen hier hinter den dichten Vorhängen ihrer monoglotten Existenz, die auch eine Art von Schutz vor der Welt vermittelt. Unter den Vergrauungen ahnt man die Epoche,

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