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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Symptome sind. Noch in der Übersetzung kommt das puritanische Vibrato des Self-Made-Theologen beklemmend zur Wirkung. Nietzsche hätte ein solches Buch nach wenigen Minuten beiseitegelegt, er, der behauptet hatte, sein Genie liege in seinen Nüstern. Er konnte Ideologien riechen und wie ein Arzt alter Schule am Aroma der Tinte die Krankheiten der Bekenner diagnostizieren. Bei dem Ägypter Qutb hätte er eine paradoxe, feurig-verklemmte masturbatorische Metaphysik wahrgenommen, die sich in eine frei erfundene Mission stürzte, um mit den demütigenden äußeren Reizen, den entschleierten Frauen, den modernen Freiheiten, den westlichen Techniken fertig zu werden, vergleichbar der süßlichen Selbstmordmusik des frühen Christentums, die Nietzsche besonders zuwider war.
    Im Grunde laufen die monotheistischen Lebensprogramme immer auf dasselbe hinaus: auf ein mutwilliges Sichvordrängen beim Dienen unter höchsten Adressen. Mit Allah kann man das übliche Ich-diene-dir-mit-Haut-und-Haaren-Spiel besonders leicht treiben, weil er ein hilfloser Alter ist, der dazu prädestiniert scheint, machthungrigen Experten der Vortäuschung von Selbstlosigkeit in die Hände zu fallen.
7. März, Karlsruhe
    Finde in Albrecht Koschorkes Die Geschichte des Horizonts ein erstaunliches Zitat aus Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse , 1857:
    »Verkehrt auf dem grauen Esel ›Zeit‹ sitzend reitet die Menschheit ihrem Ziele zu… Welchem Ziel schleicht das graue Tier entgegen? Ist’s das wiedergewonnene Paradies, ist’s das Schaffott? Die Reiterin kennt es nicht; sie – will es nicht kennen!«
    Aus der Zeitung: Die Östrogenisierung der Umwelt schreitet unauffällig, aber mit greifbaren Folgen voran. Sie führt (zusammen mit anderen Faktoren) zum Sinken der Spermienzahl pro Milliliter Ejakulat um jährlich 2%. In 50 Jahren wird der Wunsch nach Fortpflanzung überall die gezielte Injektion erfordern.
9. März, Karlsruhe
    Wie man über das Üben reden sollte: als ob man die Goldberg-Variationen auf das ganze Dasein ausdehnen wollte.
    Tullio Pinelli über seine erste Begegnung mit Fellini: »Ein einfacher Angestellter entdeckt plötzlich, daß er fliegen kann.«
10. März, Karlsruhe
    Es ist beruhigend zu lesen, daß es in Hitlers Privatbibliothek weder Werke von Schopenhauer noch von Nietzsche gab – was die Annahme unterstützt, er habe beide nur vom Hörensagen gekannt. So fällt zumindest in diesen Fällen die Besudelung des Autors durch den Leser beiseite.
11. März, Karlsruhe
    Finde eine schöne Wendung von Franz Schuh über den modus operandi der österreichischen Aufklärung à la Bruno Kreisky: »Erhellung des Lebens von oben.«
    Woher die Unlust kommt, sich zu österreichischen Angelegenheiten zu äußern? Wahrscheinlich aus der Beobachtung, daß das Land in intellektueller Hinsicht einem Schwarzen Loch gleicht. Es saugt Bedeutungen an und macht aus ihnen irgendetwas Formloses, Bedeutungsloses, So-gut-wie-nie-Gesagtes. Die Analogie ist nicht ganz stimmig, denn ein Schwarzes Loch stellt ein unermeßlich dichtes Etwas dar, während man beim Versuch, die österreichische Befindlichkeit zu fassen, von einer Leere in die nächste greift.
    In wie hohem Maß das touristische Verhalten – etwa das Innehalten vor Kulturdenkmälern – von europäischen Prägungen abhängt, geht aus einer Anekdote hervor, wonach die ersten britischen Reisenden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen jüngeren, gut erhaltenen Abschnitt der Großen Mauer zu Gesicht bekamen, vor Bewunderung fassungslos waren, während die Mandarine, die sie begleiteten, das Bauwerk keines Blickes würdigten. Auch sie hatten die Mauer noch nie gesehen, aber sie warteten nur ungeduldig auf die Fortsetzung der gemeinsamen Reise zur Sommerresidenz des Kaisers.
    Im Fernsehen abends eine informative Sendung über die Milice Française, den Kampfbund der Maréchalisten, die dem greisen Pétain zu dem stolzen Gefühl verhalfen, er sei der vierte im Bunde der »Revolutionäre«, die Europa um 1940 die neue Richtung zeigten: Mussolini, Hitler, Franco. Der Alte brachte 30000 Mann auf die Beine, die unter dem Règlement der 21 Punkte dienten – schon wieder dieser Wille zum Dienen, immer dieselbeverirrte Metaphysik, die Klerikern von alters her zum guten Gewissen verhilft und die von weltlichen Rekruten so leicht kopiert wird. Die Gestapo und die SS hätten sich keine besseren Handlanger wünschen können als die Angehörigen der Milice. Dienst und Verbrechen gehen schnell ineinander

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