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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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nur, wer sich vorwärtsarbeitet. Kreatives Leben gebiert sich selbst. Weil dabei nicht alle gleich weit kommen, gibt es eine Ungleichheit zwischen Menschen, von der die Soziologie nichts weiß. Das ist es, was ich in meinem Buch als Anthropotechnik beschreibe.
    Goethe hat deren Prinzip in einem enormen Satz festgelegt: »Eine tätige Skepsis: welche unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden, um durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.« ( Maximen und Reflexionen 1203) Deleuze weiß Vergleichbares auf seine Weise. Über das Verhältnis von Wiederholung und Variation hat er umfassender nachgedacht als jeder andere Autor seiner Generation. Er nimmt seinen Einsichten viel von ihrem Wert, indem er immer zur Seite des »Ereignisses« hin übertreibt. Er schreibt dem Ereignis zu, was der Übung gehört. Bei ihm steht »es passiert« – so wie »es regnet«. Aber kann man sagen: Goethe passiert?
    Noch einmal Debray: Wenn er von Kommunionen redet, sucht er im Grunde nichts anderes als das, was man seit Rousseau die bürgerliche Religion oder la religion de l’homme nennt. Die kann gerade in Frankreich nicht leisten, was man von ihr erwartet, die soziale Synthese von innen, weil das Land seit der Revolution in puncto zivilreligiöser Animationen tiefer gespalten ist als jede andere moderne Nation. Die communion française war nur in gaullistischen Träumen existent, und die Göttin »Frankreich«, an die der General zu glauben vorgab, war eine aus der Niederlage gezeugte Schimäre. Sie löste sich am Tag der libération in dissonante Lagerstimmungen auf.
    Doch wenn man beobachtet, mit wie viel Sympathie Debray von den Compagnons du Tour de France spricht, einer erzkonservativen Handwerkerinnung im Baugewerbe, die spätmittelalterliche Rituale am Leben hält, versteht man, worauf er hinauswill. Wie die wagnerianischen Deutschen den Gral suchten, sucht er das klassen- und milieuübergreifende soziale Band – und kann es nicht finden, außer im Hinweis auf gefühlsbetonte Momente, wenn Fremde sich in den Armen liegen, sei es am 14. Juli oder wenn die französische Fußballmannschaft gewonnen hat, notfalls im Hinweis auf dubiose Ritualgemeinschaften ohne verallgemeinerbare Spielregeln. Er findet es nicht, weil er von einer sinnlosen Prämisse ausgeht – nämlich daß Gesellschaften aus isolierten Individuen bestehen, die ex post zu größeren Verbänden zusammengeschweißt werden müßten. Daher verlangt er von der Theorie, sie müsse eine »Soziogonie« bieten: eine Erklärung dafür, wie man »du tas au tout« gelangt, vom Haufen zum Ganzen. Aber die Frage ist nicht gut gestellt: Man kann nicht ein Wir aus einem anfänglichen »kolloidalen Chaos« konstruieren, in dem die Ich-Atome vorgeblich bindungslos herumschwirren.
    Die Soziogonie ist überflüssig, da es keine Nicht-Gesellschaft am Anfang gibt. Ein Wir ist schon auf der elementaren Ebene da – und die Frage ist bloß, wie sich das Mikro-Wir zu den Makro-Wir-Konstrukten verhält. Vielleicht ist es ohnehin schädlich, von großen Populationen zu viel Ver-Wirung zu verlangen. Am Anfang ist kein tas (der Haufen) und am Ende kein tout (das Ganze). Debray hätte ein französischer Plessner ( Die Grenzen der Gemeinschaft , 1924) werden können, wenn er nicht von der communio noch immer viel mehr erwartete, als sie geben kann.
    Was man dem Gentleman schenkt: ein Poloshirt, eine Pfeife und einen Rasenkantenstecher von Sorby & Hutton mit wetterfestem Stiel.
16. März, Badenweiler
    Gabriel Tarde, unser Zeitgenosse. »Von einem Wasserturm steigt fortwährend ein Wasserfall von Nachahmungen ab.« Was der Soziologe die »opposition universelle« nennt, folgt aus der Tatsache, daß kein Nachahmungsfluß uneingeschränkt dominieren kann. Jeder Fluß stößt auf andere Flüsse, sei es näher, sei es weiter entfernt von ihren Quellen. Geschichte ist die Serie der Konflikte von Imitationsströmen.
    Sainte-Beuve: »Ein Genie ist ein König, der sein eigenes Volk erschafft.«
    Manieren als Gewohnheiten. Im Manierismus wird über den ersten Stock der populären Gewohnheiten ein zweites, ein drittes Stockwerk von zunehmender Ungewöhnlichkeit gesetzt. Je höher, desto manieristischer.
18. März, Köln
    Das Buch hat glücklich das Licht der Welt erblickt. Die erste Lesung aus Du mußt dein Leben ändern vor großem Publikum erfolgt auf der LitCologne im überfüllten Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks. Miriam Meckel zeigte sich beim

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