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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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kosmopolitischen Umarmungswilligkeit der Holländer. Die Rückkehr des Realen wird von beiden Ländern Zugeständnisse an die vergessenen Gläubigermächte fordern.
    Reden, reden, reden, durch den Tag, durch die Nacht.
    Versuch über Psychofotografie:
    Du nimmst mit deiner Psycho-Kamera Bilder auf, von denen die Modelle nichts ahnen. Zum Beispiel die Schöne in Rot dort im Bistrot des Amrath, als ich vor einer Stunde zurückkam: wie sie im Gespräch mit ihrem Bekannten dasaß, vorwärtsgebeugt, vom Dialog absorbiert, und vermutlich nicht bemerkte, daß sieen passant auf dem empfindlichen Film eines lebendigen Sehens festgehalten wurde. Vor 150 Jahren hat Baudelaire seine Pariser Passantin gefeiert, erst jetzt begreift man, auch war er schon ein Psychofotograf – bereit zur Liebe, verurteilt zum Verzicht, aber unvergleichlich beim Entwickeln der inneren Bilder. Vielleicht sollte man unsere Schönen daran erinnern, daß die alte Camera obscura in der Männerpsyche noch immer die besten Bilder liefert – sie sollten auch wissen, daß die Bilder besser entwickelt werden, wenn sie dem Mann in der Dunkelkammer ein wenig helfen. Wir dürfen sicher sein, verstünden sie das, sie würden uns als die willigsten Modelle entgegenkommen. Zu den Geheimnissen des Verhältnisses zwischen Frau und Auge gehört der Umstand, daß Frauen fast nie wissen, welches das Auge ist, in dem sie am meisten leuchten. In ihrer Unwissenheit fallen sie auf das erstbeste Objektiv herein.
    Dies vorausgeschickt, muß man konstatieren, daß es wenige Plätze in der Welt geben dürfte, die dem Psychofotografen so viel Arbeit aufgeben wie die Innenstadt von Amsterdam.
26. April, Amsterdam
    In Deutschland ist der Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten erneut eröffnet worden – obschon man bei uns gern so tut, als gehöre es zur Würde des Amtes, keinen Wahlkampf um es zuzulassen. In den Redaktionszimmern der Springer-Presse sieht man das offensichtlich anders. Von Anfang an wird für klare Verhältnisse gesorgt: Auf keinen Fall möchte man die erneut von der SPD unterstützte Kandidatin ins Schloß Bellevue einziehen sehen. Die Welt am Sonntag bringt ein Portrait von Gesine Schwan, die schon vor vier Jahren gegen Horst Köhler den kürzeren gezogen hatte, ein ziemlich grobianisches Stück, hart an der Grenze zur Demontage, worin die Politologin aus Frankfurt an der Oder, die es aus welchen Gründen auch immer noch einmal wissen will, als idealistisch-opportunistische Nervensäge vorgeführt wird.
27. April, Amsterdam
    In der Singlekerk, einer der vormaligen Geheimkirchen der Stadt aus dem 17. Jahrhundert, trage ich eine längere Präsentation der Hauptmotive aus den jüngeren Büchern vor, kulminierend in der These, wonach Metaphysik in allgemeine Immunologie umgewandelt werden muß, will man sie für unsere Zeit fruchtbar erhalten – wobei man sofort auf bizarre Fragen gerät wie die, ob man als Toter noch ein Immunsystem braucht.
    Nebenbei entsteht die Disposition zu einem kleinen Buch, das die Grundideen aus Sphären und Du mußt dein Leben ändern zusammenzieht:
    0 Mensch und Gefahrenwelt: Die immunologische Zäsur
    1 Zwischen zwei Verletzungen: Die immunitäre Zeit
    2 Die dreifache Immunität des Menschen: Riten, Rechte, Antikörper.
    3 Maximale Verletzungen – jenseits der Immunabwehr oder: Warum das Lamm nicht gegen den Wolf immun ist.
    4 Stress und Immunität
    5 Spaemanns »Beweis«: Vom Heil in relativen Gedächtnissen
    6 Tote brauchen kein Immunsystem
    7 Gott als Todgeber und Lebensgarant
    Denke abends im Hotel noch einmal über einige Motive nach, die mir anläßlich der Promotion von Sjoerd van Tuinen in Gent über den Manierismus bei Deleuze durch den Kopf gegangen waren.
    Im Grunde handelt die zeitgenössische Philosophie, wo man sie noch ernst nehmen kann, vom Problem der Zusammensetzung. Während die Opportunisten von Kommunikationen sprechen, reden die Denker von Kompositionen. Vorzeiten bildeten diese das Hauptmotiv des Manierismus in der Kunst. Im Manierismuswird das Komponierte, Zusammengesetzte, Zusammengestellte der wirklichen »Werke« hervorgekehrt, als wollte man betonen, das Künstliche, das Kunstvolle, das menschengemachte Nicht-Menschliche sei immer viel zu komplex, um bloß »geschmackvoll« oder organisch sein zu können.
    Manierierte Werke sind Komposit-Produkte, Körper aus Körpern, Werke aus Werken, Figuren aus Figuren – das bekannteste unter ihnen dürfte das Titelbild zu Hobbes’ Leviathan sein, in dem der

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