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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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das Wunschsystem »Gesellschaft« fesseln.

Heft 103
    1. Mai 2009 – 28. Juli 2009
1. Mai, Karlsruhe
    Rilke in einem Brief an Marina Zwetajewa, 1926, im Rückblick auf die Tage, an denen er die Duineser Elegien vollendete:
    »… Muzot aber, auffordernder als alles, liess nur die Leistung zu, den Absprung, senkrecht ins Offene, die Himmelfahrt der ganzen Erde in mir.«
2. Mai, Zürich
    Das aufrührerische Korn denkt, es verändert die Mühle, wenn es sich von ihr zermahlen läßt.
    Wie sehr die Schweiz mit der Geschichte der europäischen Bohème verbunden ist, wäre bei Gelegenheit im Detail zu untersuchen. Da das Bohème-Phänomen illustriert, worauf die bürgerliche Gesellschaft hinaus will, nämlich auf die Aufhebung des Zwangs zur Arbeit unter Beibehaltung ihrer Belohnungen, wäre es sinnvoll, die ursprünglichen Schweizer Konstellationen zu betrachten.
    Die Urszene – Rousseau im ruderlosen Kahn auf dem Bieler See – wirkt für alle Zeit nach, weil sie das Recht auf Abkehr von der Gesellschaft in einer Weise ausdrückt, die den intimsten Traumregungen der Modernen gemäß ist. Endlich kann man der Welt abhanden kommen, ohne daß der Eintritt in einen Orden nötig würde. In einem unendlichen Prozeß gegen die Welt erhebt die unorganisierte Empfindsamkeit ihre Forderungen, die letztlich auf ein Inruhegelassenwerden in wohlversorgter Isolation hinauslaufen.
    Aus der aristokratischen Solitüde wird bürgerlich die Evasion ins Entlegene, Hügelige, Gebirgige. Die Literatur lädt die Gehirne der Leser in das Reich der Phantome ein, in ein surreales Böhmen, das so gut am Meer liegen kann wie in den Alpen.
    Im 19. Jahrhundert siedelt sich in der Schweiz eine anarchistische Bohème an, mit und ohne Bombenbau. Wenn Nietzsche in Ecce homo schreibt, ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit, ist das der vollkommene Helvetismus: Von den Tunnelbohrungen für die kühnen Eisenbahnen in den Alpen steckt darin so viel wie vom geheimen Treiben der Leute, die man die dinamitarii nannte, nicht selten Bakuninschüler, Anhänger des Glaubens, daß es erst krachen muß, bevor es vorangeht.
    Um 1900 strömt in Ascona die europäische Selbsterfahrungsbohème zusammen, die Vorfahrin von allem, was heute alternativ heißt, mit Theosophie, Meister Eckart und Anweisungen zur freien Liebe im Gepäck. Vom August 1914 an ist die europäische Pazifismusboheme zu Gast, die im Dadaismus kulminiert. Es folgt die Psychotherapiebohème, die sich als das hartnäckigste Subkulturgewächs des 20. Jahrhunderts erweist. Sie trägt bis heute dazu bei, daß Zürich nicht nur regelmäßig zur Lebensqualitätshauptstadt der Welt gewählt wird, sondern die europäische Metropole der Reisen ins Ich darstellt, mit einer utopischen Quote von Psychotherapeuten pro Quadratkilometer.
    Rousseau, der erste unter den Bohèmiens, bleibt als okkulter Ideengeber des antibürgerlichen Ressentiments in allen folgenden Generationen wirksam. Sein Modell strahlt subkulturell heftig nach, in Frankreich auch hochkulturell, nicht zuletzt weil die romantische Tradition des Hasses gegen den Bürger durch einen Autor wie Sartre, einen bekennenden Naturverächter, der mit Rousseau in oberflächlicher Sicht nichts gemeinsam hatte, bis in die siebziger Jahre weitergetragen wurde. Dort wird die Stelle des Meisters aller Bürgerverächter in jedem Bücherherbst neu ausgeschrieben.
    Unterwegs im Zug: Die Appetitmacherprosa der Reisejournale, die in den Bahnabteilen ausliegen: Kommen Sie, staunen Sie, entdecken Sie, genießen Sie, bewundern Sie, übernachten Sie, lassen Sie sich verwöhnen, und das alles für nur …
    Die Verhandlungen mit Stanford über meinen Besuch stehen unter keinem guten Stern. Man signalisiert mir, die Forderung nach einem Flug in der Business Class sei mit den Gepflogenheiten universitären Rechnungswesens nicht verträglich, es sei denn, der reisende homo academicus könne ein ärztliches Attest vorlegen, aus dem hervorgeht, er dürfe aus medizinischen Gründen ausschließlich in der bequemeren Kategorie über den Atlantik fliegen. Die suggerierte Krankschreibung paßt leider nicht ins innere Bild des Gasts von seiner Art der Fortbewegung. Das ist, als sollte er über den Ozean hinken.
    Die Degeneration des Begriffs »Liberalismus« zum Schimpfwort in den Leitartikeln der linken wie der konservativen Medien verdunkelt die wahre Geschichte der Völker, die sich zuerst die Lizenz zum Genießen erteilten. Die Anfänge des Konsums liegen in der europäischen

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