Zeilen und Tage
netten niederländischen Gastgeber vorgesehen haben: In kaum fünfeinhalb Tagen drei lange akademische Veranstaltungen, vier öffentliche Vorträge vor großem Publikum und fünf große individuelle Interviews mit den wichtigsten Zeitungen des Landes. Dazu heißt es im einfühlsamsten Ton: Man habe darauf geachtet, genügend Pausen einzuplanen.
22. April, Gent
Nichts zu bereuen gab es an diesem hellen Tag, und wäre es nur darum, weil er Gelegenheit bot, eines der größten Kunstwerke nördlich der Alpen, van Eycks Genter Altar von 1432, hier Das Lamm Gottes genannt, zu besichtigen. Mit diesem Bild ist der Übergang vom miraculum zum mirabile zu belegen. Frappierend, wie der Künstler die Wandlung vom Denken in Begriffen der Emanation, der Ausstrahlung des Lichts aus einer transzendenten Quelle, zu einer Feier der Augenlust darstellt. Es mag ja sein, daß der Sohn geheimnisvoll aus dem Vater hervorgeht, aber daß er plötzlich als Schaf mit einer Lichtkrone mitten im Bild steht, das verleiht den menschlichen Seh-Organen eine unbekannte Würde. Das Wunderbare ist zum Sichtbaren geworden. Hätte man den Weg von Amsterdam hierher zu Fuß zurücklegen müssen, es wäre den Aufwand wert gewesen. Das also hat die bürgerliche Mystik zustande gebracht! Es war im Norden, es war im flandrischen Fokus, wo die tiefere Synthese von Handwerk und Verklärung erreicht wurde. Hier war es, wo das neue Volk Gottes seine Truppen sammelte, um in die Moderne aufzubrechen. Hier legten die musizierenden Engel offen, was künftig von einem Himmel verlangt werden wird, der seinen Namen verdient.
25. April, Tilburg
Mit Rene Gude auf der Midi-Bühne, in einem ehemaligen Kino. Wir stürzen uns in das indiskrete Abenteuer, die alteuropäische Philosophie zu rekapitulieren, als könnte man das Wesentliche in einer halben Stunde sagen. Wie viele Zuhörer sind da? Vierhundert, fünfhundert?
Es beginnt damit, daß man sich das ontologische Dreieck: Gott-Welt-Seele vor Augen halten muß. Wo die komplette Figur dominiert, kann es kein unglückliches Bewußtsein geben, weil sich der Mensch, der Inhaber des Seele-Pols, ständig auf zwei Fülle gewährende Totalitäten, Gott und die Welt, beziehen darf.
Blättert man in den Annalen der Philosophie bis zu ihren athenischen Ursprüngen zurück, zeigt sich allerdings, daß das unglückliche Bewußtsein in ihr von Anfang an überwog. Kaum gibt es einen allgemeinen Begriff von Gott, fühlt sich die Seele von ihm getrennt. Kaum gibt es einen allgemeinen Begriff von Welt, fühlt sich der Mensch von ihr abgestoßen. Zwischen zwei Beraubungen gesetzt, ist die dritte Größe, die arme Seele, genötigt, von Versöhnung mit einem von den anderen Polen zu träumen. Zwei Versionen der Versöhnungsspekulation sind denkbar:
Die erste Versöhnung will Gott und Seele zusammenführen, nötigenfalls um den Preis, den Weltpol fallen zu lassen. Das ist der Weg, den in der späteren Antike Augustinus gewiesen hatte, von dem alle Existentialismen herkommen – der weltlose Weg des unglücklichen Bewußtseins, der noch der schönen Seele der Moderne attraktiv erscheint.
Die zweite Versöhnung zielt auf die Wiederanpassung des Menschen an die Welt oder der Welt an den Menschen, wobei der dritte Spitze im Dreieck, Gott, zu einer vernachlässigbaren Größe wird. Unnötig zu betonen, daß dies den Weg der Moderne beschreibt. In dieser Zeit richtet sich der Mensch in einem Wohlbehagen ohne Überbau ein, auf die Gefahr hin, zu einem bloßen Anhängsel der Welt zu werden.
Solange das ontologische Dreieck vollständig ausgespannt bleibt, ist die Rede von Versöhnung überflüssig. Die Seele weiß, daß sie zur ontologischen Bigamie berechtigt ist: Ihr Schicksal besteht darin, mit Gott und der Welt gleichzeitig eine Affaire zu haben, nota bene, eine glückliche nach beiden Seiten.
Die zweite Hälfte des Gesprächs war dem von Rene Gude angeregten Versuch gewidmet, den Grundgedanken der »Theorie der Nachkriegszeiten« auf die niederländische Situation zu übertragen. Wie die Franzosen nach der libération plötzlich neben den Siegern aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen wäre, in doppelter Heuchelei, links an der Seite Stalins, rechts an der Seite de Gaulles triumphierend, so haben auch die Niederländer nach 1945 sich etwas vorgemacht und ihre Nachkriegswirklichkeit auf einem nicht selbst erfochtenen Sieg aufgebaut. Die nachträgliche nukleare Großmannsucht der Franzosen ist das formale Äquivalent der nachträglichen
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