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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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wollen wir unter Bazons Federführung und unter Mitwirkung von professionellen Helfern verschiedener Fachrichtungen an unserem Haus eine Reihe von »Studiengängen« zur Qualifizierung von »Diplombürgern« installieren, zunächst über einen Zeitraum von vier Semestern, finanziert aus privaten Mitteln, die durch einen von Bazon angeworbenen Sponsor, einen gebildeten humanistisch engagierten Arzt, bereitgestellt werden – fürs erste nicht weniger als einige Hunderttausend Euro.
    Das Programm erfüllt die Voraussetzungen, die man von klarenund deutlichen Ideen verlangt: In demokratischen Gesellschaften sind alle Individuen unvermeidlich in fünf Lebensbereichen aktiv: als Bürger (von Institutionen), als Konsumenten (von Warenangeboten), als Patienten (von Gesundheitsdiensten), als Rezipienten (von Medien und Künsten) und als Gläubige (von Heilsbotschaften und religiösen Angeboten). Angesichts dieser Tätigkeitsfelder sollten die Hochschulen künftig sich nicht damit begnügen, Diplomanden in den hausintern eingeschliffenen Fächern hervorzubringen. Es wäre politisch legitim, wenn diese Schulen öfter auf ihren allgemeinen Bildungsauftrag zurückkämen und interessierten Bürgern die Möglichkeit anböten, sich in den fünf Primärfakultäten weiterzubilden. Das wollen wir in Karlsruhe ausprobieren: Vom folgenden Herbst an werden in unserem Haus jede Woche offene Abendkurse eingerichtet, angeboten von ausgewiesenen Experten, um Diplombürger, Diplomkonsumenten, Diplompatienten, Diplomrezipienten und Diplomgläubige auszubilden.
    Unter den Mitwirkenden ist, denke ich, keiner, der nicht den bizarren Beiklang dieser Ausdrücke bemerkt, doch wird man es auf die Nebentöne ankommen lassen. Daß bei einem solchen Unternehmen Ernst und Unernst eng benachbart sind, liegt in der Natur der Sache. Die Teilnehmer werden entscheiden, wie verbindlich oder unverbindlich das Projekt gerät. Es hat von sich her die Form einer Wette: Wer Demokratie sagt, räumt ein, daß es sie noch nicht wirklich gibt. Das ist kein Grund, ab heute nicht etwas mehr zu wagen. Wir rufen Till Eulenspiegel zum Hüter der Verfassung aus. Aber Eulenspiegel lebt hier nicht mehr, und nun, Freunde, seid nur ihr noch übrig, um es zu machen, wie es sich gehört.
    Die Allianz mit Bazon wäre nicht zustande gekommen, wären wir uns nicht in einem sensiblen Punkt einig – nennen wir sie die nach-skeptische Position: Die Kulturtheorie hat sich dem Punkt genähert, an dem sie nicht mehr mit Forschungshypothesen begnügen muß. Sie weiß genug, um legitime dogmatische Energienzu entwickeln – dogmatisch im Sinn einer Lehrbefugnis, die mit der basalen Skepsis unzertrennlich verbündet bleibt. Jetzt ist hinreichend geklärtes Wissen im Spiel und nicht bloß im dunkeln tappender Glaube, wenn wir von Kulturweitergabe, von Übungssystemen, von Stressverarbeitung und von der sozialen Synthesis durch Medien reden. Das Wissen von der Erschaffung, Bewahrung und Transformation der Kulturen kann sich endlich auch im positiven Vortrag äußern. Wenn wir das Beste sagen, was wir wissen, haben wir ein Lehramt, nicht bloß ein Forschungsstipendium.
    Der Auftritt im Theater von Bad Godesberg war ein Experiment: wie wenn sich ein Selbstmörder an die Rampe stellt und sich dem freien Fall überläßt.
    Es sind circa 350 Zuhörer im Raum. Ich habe mir einen Stuhl im leeren Bühnenraum bereitstellen lassen. Auf ihm nehme ich Platz und beginne mit freien Assoziationen, indem ich dem Publikum die Gelegenheit biete, meine Bewegungen zu verfolgen. Reine Freiheitsbewegung auf meiner Seite, vollständige Freiheitsberaubung auf der anderen, das ist der theatralische Kontrakt.
    Zuerst erinnere ich an Rousseaus Entdeckung der modernen Freiheit im driftenden Kahn auf dem Bieler See: Die Szene spielt im Herbst des Jahres 1765. Da legt sich ein Autor in träumerischer Verfassung, dem später die Sprache wiederkehrt, in ein kleines Boot auf dem Wasser. Er läßt sich treiben, stundenlang, und träumt sich aus der gemeinsamen Welt hinaus. In dieser Absenz entdeckt er die Seligkeit des modernen Menschen, die Ferien im vollständigen Sinn des Wortes. Unbelastbarkeit, Unerreichbarkeit, Unverantwortlichkeit. Aus dem Siesta-Nirvana kehrt er in die bürgerliche Welt zurück. Mit dem Privileg des Blicks aus dem Innersten ausgestattet, kann er jetzt sagen, wie die Maschine funktioniert. Es ist nicht das Bewußtsein, das Feige aus uns allen macht, es sind die überminimalen Bedürfnisse, die uns an

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