Zeilen und Tage
Großmensch Staat aus vielen Kleinmenschen zusammengefügt ist. Solche Bilder übermitteln die Denkaufgabe, das Sein als Zusammengesetztsein zu begreifen. Die Pointe liegt in der Zumutung, die größeren Gebilde nicht als Organismen zu denken, auch nicht als Debattierclubs, sondern als »perverse Totalitäten« bzw. als hybride Gefüge oder »heterologe Kompositionen«, etwa als Mensch-Maschine-Einheiten oder als Verbände aus lebenden Zellen und mechanischen Systemen. In solchen Zusammenhängen kann man Leibniz wieder brauchen, als wäre er ein Autor von heute: Er hatte die Grenzen zwischen Natursubjekten (Zellen, Atomen) und Individuen (Personen) bewußt verwischt, um die Rätsel des Zusammengesetzten besser beschreiben zu können. Solche Komposita sieht man heute am eindrucksvollsten in den großen Städten, in Gehirn-Ensembles, in Daten-Wolken und in radikalen Romanen.
Im übrigen ist evident, daß eine Promotion wie die in Gent an den meisten deutschen Fakultäten nicht möglich gewesen wäre. Die deutschen Philosophieprofessoren sind noch fast durchwegs im Weltbild des psychologischen Romans des 19. Jahrhunderts zu Hause. Sie quälen sich weiter mit Themen, wie sie für Abituraufsätze nach 1950 typisch waren: das Versagen der zwischenmenschlichen Kommunikation, soziale Entfremdung, fehlende Anerkennung, Leiden an Unbestimmtheit. Dagegen ist eine Arbeit wie die van Tuinens im Horizont des Science-fiction-Romans jenseits von Neuromancer angesiedelt, sie deutet voraus in die Zukunft der Neuro-Psycho-Chemo-Sozio-Info-Technologien.
28. April, Nijmegen Bonn
Am Ende einer Woche voll von rhetorischen Exzessen geht es zurück auf deutschen Boden, wo vor der Heimkehr noch eine Etappe im Stadttheater von Bad Godesberg wartet.
Über Geschenke des Lebens, ohne Ironie gesprochen. War es nicht eine Familienfeier, in deren Verlauf eine Reihe von Brüdern und Schwestern a posteriori auftauchten? Und das Leben selbst wäre die unregelmäßige Deklination des Substantivs Verwandtschaft?
29. April, Bonn Bad Godesberg
Warum die Verausgabungen der letzten Woche nicht zum energetischen Debakel geworden sind? Vielleicht, weil die Kräfte sich schnell wiederherstellen, wenn der Akteur seine Engagements ohne Vorbehalt bejaht – auch bei einer Agenda, die zunächst von anderen bestimmt wurde, namentlich von den liebenswerten Verlags-Leuten, die zwischen Gastfreundschaft und völliger Auspressung des Besuchers keinen Unterschied gelten lassen.
Sollte man dem Propheten Mohammed wirklich den Satz zuschreiben dürfen: »Die Tinte des Gelehrten ist heiliger als das Blut des Märtyrers?« Falls ja, wäre das islamische Phänomen neu zu überdenken. Um die Authentizität des Satzes steht es allerdings nicht besser als um die der zahllosen suspekten Hadithe, die über Jahrhunderte hinweg zum Leben des Propheten hinzugedichtet wurden. Im Grunde ist die islamische Kultur nichts anderes als die Matrix aller Hinzudichtungen, die im Geist der noblen Lüge und des frommen Betrugs erfolgten – genau wie es ein Jahrtausend lang im legendenschaffenden Christentum geschah. Und dies zu Recht, denn der dichterische Geist ist jener, der sich getraut zu sagen: Wenn der Prophet, sein Name sei geheiligt, der war, für den wir ihn im Licht unserer höchsten Vermutungen halten, dann muß ihm ja wohl oder übel auch dieses und jenes wunderbar kluge und zivile Wort über die Lippen gekommen sein, das wir jetzt, 300 oder 400 Jahre später, in seinem Namen aufschreiben.
Was die Legende angeht, sind die Theologen aller Lager ganz entspannt. Sie geben ohne Verkrampfung zu, daß die theopoetischen Zusatz-Produktionen in menschlichen Werkstätten ad maiorem Dei gloriam verfertigt wurden. Nur im Hinblick auf die singulären »heiligen Bücher«, die Bibel, den Koran, verläßt dieselben Theologen der Mut. Diese Bücher sollen unter Diktat, senkrecht von oben eingegeben, aufgeschrieben worden sein, als wären die Schreiber nur die Spitze einer jenseitigen Feder. Was zeigt: Ein Theologe ist ein Feigling, der im entscheidenden Moment vom Glauben an die Privilegien der Poesie verlassen wird.
30. April, Karlsruhe
Mit der obligat verspäteten Bahn zurück nach Karlsruhe, wo ein dichtes Terminprogramm wartet.
Im Gespräch mit Bazon Brock entwickelt sich aufgrund seiner ausgreifenden Ideen der Plan, an unserer Hochschule ein politisch-didaktisches Experiment zu wagen, von dem ich sicher bin, es hätte Heinrich Klotz gefallen: Für ein Publikum aus Karlsruher Bürgern
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