Zeilen und Tage
Einsicht: Kleine Kinder lernen vor allem für die Lehrer! Also ist es die Beziehung, die den Ausschlag gibt. Sie ist es, die Kinder in Bewegung bringt. Was man Reifung nennt, findet in Beziehungen statt. Folglich: Wir sollen für den Lehrer lernen und nicht für das Leben!
Die beste Botschaft der ungewöhnlichen Sendung ist die Evidenz: Da sind ja die Erwachsenen, die das Thema Erziehung mit dem gebührendem Ernst behandeln, und mit dem Humor, der hier von Anfang an am Platz ist! Zuletzt zitiert Backes Rabelais: »Ein Kind ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern ein Feuer, das entzündet werden will.« In einem solchen Moment bedauert man, daß es kein Zwei-Wege-Fernsehen gibt.
10. Mai, Karlsruhe
Überall auf den Straßen herabgerissene Äste, leere Verpackungen und nasse Zeitungen, Spuren des Hagelgewitters von gestern.
Beim Prolog des Giro d’Italia am Lido von Venedig erreichten die Sieger im Mannschaftszeitfahren, das Team Columbia, über eine Strecke von 20,5 km eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 56,3 km/h.
11. Mai, Karlsruhe
Woran würde man das Ende der Geschichte erkennen? Vielleicht am Aufhören der Sorge. Alle sind sich einig, daß die Sorge nicht aufhört.
12. Mai, Karlsruhe
Es ist falsch zu sagen, die sozialen Unruhen würden herbeigeredet. Sie werden in Auftrag gegeben. Vor ein paar Tagen zitierte Christian Semler in der taz mein Modell der Zorn-Bank, wobei er den Bank-»Vergleich« – als ob es ein Vergleich wäre – ablehnte, jedoch das Problem der organisatorischen Stabilisierung von Protestleidenschaften als solches zugab. Sein Resümee hat keine neue Pointe: Soziale Unruhen sind immer wertvoll, selbst ohne Bankhaus und Partei. Womit das krawallistische Weltbild des alten 68ers anachronistisch durchbricht.
13. Mai, Karlsruhe
Von Thomas per Mail ein wundervolles Zitat aus Charles Péguys Essay Argent von 1912, dessen Beobachtungen auch noch für seine und meine Kindheit zutreffend waren:
»Wir haben eine Welt gekannt, wir haben eine Welt erlebt (und als Kinder daran teilgehabt), in der ein Mensch, der sich mit seiner Armut abfand, in dieser Armut zumindest Sicherheit fand. Es war eine Art stillschweigender Kontrakt zwischen dem Menschen und dem Schicksal, und vor dem Anbruch der modernen Zeiten hatte das Schicksal diesen Vertrag nie gebrochen. Man wußte, daß man alles aufs Spiel setzte, wenn man einer Laune folgte, seiner Willkür nachgab, wenn man im Spiel sein Glück suchte, wenn man der Armut entkommen wollte. Wer im Spiel sein Glück suchte, konnte verlieren. Wer sich aber auf dieses Spiel nicht einließ, hatte nichts zu verlieren. Sie konnten nicht ahnen, daß eine Zeit anbrechen würde, daß sie – die moderne Zeit nämlich – schon gekommen war, in der man, wenn man nicht spielt, immer verliert und noch sicherer verliert, als wenn man spielt.« Zitiert nach: Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus , Konstanz 2003, S. 19)
Ich weiß nicht mehr, wo ich Bruno Latours Verteidigung des stotternden Stils von Péguy gelesen habe.
14. Mai, Karlsruhe
Jüngere neurologische Untersuchungen weisen nach, daß der Tastsinn der Finger nach mehrwöchiger Ruhigstellung der Hand in steifen Verbänden, z.B. aufgrund von Frakturen, sich deutlich zurückentwickelt. Das läuft auf den Beweis für die permanente Trainingsabhängigkeit auch der scheinbar trivialsten Organleistungen hinaus. ( FAZ , 110/2009, Seiten: Natur und Wissenschaft)
Frank Lloyd Wright, bei Gericht als Zeuge vorgeladen, stellte sich als den größten lebenden Architekten vor. Auf die Frage des Richters, was ihn zu dieser Behauptung veranlasse, erwidert Wright, er stehe immerhin unter Eid.
16. Mai, New York
Nun hat sich anstelle des bürokratisch zu komplizierten Besuchs in Stanford über Nacht eine erneute Reise nach New York ergeben, wo wir an der Inauguration eines Kunstwerks von Olafur Eliasson: The Parliament of Reality auf dem Campus von Bard College teilnehmen, um danach für ein paar Tage in Manhattan zu bleiben.
Das Eröffnungsfest, durchgeführt in Form einer Serie von Reden auf dem Eliasson-Versammlungsort, einem isländischen Beratungs-Platz nachempfunden und mit geologisch-astronomischen Symbolen überzogen, begann gegen halb elf am Vormittag mit einer eleganten, intellektuell hochklassigen Rede von Peter Galison, gefolgt von einigen eher zähen akademischen Präsentationen einschließlich einer Kostprobe aus dem Treibhaus der hiesigen postcolonial studies: Eine afrikanische Lady sang einen
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