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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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zuerst notiert: In menschlich beobachtbaren Fristen waren die unmerklichen Mutationen unsichtbar, zu Unrecht schloß man auf die zeitlose Stabilität der Urbilder.
    Im Jahr 1919 schreibt Valéry die bekannte Sentenz nieder: Wir wissen jetzt, daß die Zivilisationen sterblich sind. Auch dies war eine Aussage, die dem Sprecher so schwer fiel, als müsse er einen Mord gestehen, den Mord am alteuropäischen Begriff der Menschheit. Dieser war auf die Hypostasierung der Völker gegründet, die man für unsterbliche Größen halten wollte, indes die Einzelnen die Rolle der Sterblichen innehatten. Noch Comte, der Erfinder der Soziologie, nannte das im Geist des 19. Jahrhunderts als »Gesellschaft« mystifizierte Volk le Grand Être. Er bezeugte damit, daß für ihn das klassische Schema weiter gültig war: dort das unsterbliche Kollektiv, das durch die Jahrhunderte schreitet, hier die sterblichen Einzelnen, die man wie Sokrates im Modus Barbara unter die Erde bringt.
    Zu zeigen wäre, wie die beiden Geständnisse logisch und historisch zusammengehören.
    Eine Versuchsstation ist Österreich in der Tat – doch nicht für Weltuntergänge, wie Karl Kraus übereilt behauptet hatte, sondern für die praktische Widerlegung des Darwinismus. In diesem Land werden offensichtlich seit längerem Versuche zur Überprüfung der Hypothese durchgeführt, ob nicht der Weltlauf besser begreiflich wird, wenn man ihn durch das Überleben der Unfähigen erklärt. Wie weit man hier bei diesen Versuchen gegangen ist, läßt sich an der Tatsache ablesen, daß man auf vielen Gebieten, zumal dem der Politik, zwischen Fähig und Unfähig nicht mehr unterscheiden kann. Die höheren Positionen im Land werden im allgemeinen von Individuen innegehalten, von denen kein Mensch imstande wäre zu sagen, worin sie sich ausgezeichnet hätten. An ihnen ist meistens eine gewisse Erosion der Eigenschaften zu bemerken, deren Resultat man am besten als eine mehrdimensional disponible Dürftigkeit beschriebe. Die befähigte sie in der Vergangenheit zu konfliktlosen Aufstiegen und empfiehlt sie weiterhin für ein profilloses Verweilen in gehobenen Funktionen. Die Ungesundheit der Situation verrät sich in den Momenten, in denen die Eigenschaftslosen ihr Ressentiment gegen die Fähigen nicht verbergen können.
Keine Freiheit ohne
Pferd
 
Segel
 
Tinte, Schreibzeug, Papier
 
Dynamit
 
Erdöl
 
Automobil
 
Telefon
 
Flugzeug
 
Computer
    Carl Schmitts Diktum, es gebe keine Freiheit ohne Bewegungsfreiheit, ist noch zu sehr vom Paradigma der Eroberung her gedacht. Bei ihm beginnt alles mit der Besetzung herrenloser Räume und der Aufteilung des Bodens – Nomos der Erde. Was Schmitt Politik nennt, ist in Wahrheit die Fortsetzung der Immobilienverwaltung mit kriegerischen Mitteln. Der vielzitierte Feind ist bloß der Vorstand eines rivalisierenden Immobilienbüros. In Wirklichkeit sind Freiheiten bestimmt durch die Wirkungskreise der Machtmittel, mit denen die ermächtigten Agenten in ihre Umwelt ausgreifen. Ein Student besaß 1968 mit einem Deux Chevaux größere Mobilität als Karl der Große. Eine Vierzehnjährige von heute erreicht über Facebook mehr Zeitgenossen als Caesar vom Capitol aus auf dem Höhepunkt seiner Macht.
6. Mai, Wien
    Adenauers abgründig dummer Satz »Kinder kriegen die Leute immer« hatte systemisch verheerende Folgen: Man koppelte damals die Renten an die Lohnentwicklung, ohne die Frage zu stellen, ob die Versicherten außer ihren Pflichtbeiträgen zur Rentenkasse auch ihre freiwilligen Beiträge zur Fortpflanzung der Population erbringen werden. Der alte Kanzler war außerstande, sich eine Welt vorzustellen, in der die Mehrheit nichts dabei findet, ohne Nachkommen in die Grube zu fahren.
    Beginne abends an der Angewandten die Vorlesung Platos Kritik der Liebe , ausgehend vom Symposium , über das ich vor Jahren am Schillerplatz schon einmal vorgetragen hatte, ein Thema, das für eine Abschiedsveranstaltung passend schien. Für die Raumkapazität des Hauses am Stubenring war die Besucherzahl um die Hälfte zu groß, Erfahrung lehrt aber, daß man sich auf die schnelle Abwanderung der Zufallshörerschaft einstellen darf. Was werden diese Leute mit dem beiläufig Gehörten machen?Nun, wenn man nicht ins lokale Depressionssystem eingesogen werden möchte, darf man solchen Fragen nicht nachgehen. Es ist im übrigen keine österreichische Spezialität, daß zwischen Ohren und Gedächtnissen keine Verbindung mehr besteht.
    Hegel: »Der freie

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