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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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harmlos klingenden Song aus der Zeit der britischen Kolonien, worin im zeitüblichen Ton von den kleinen Negern die Rede war. Nun gab sie mit strahlender Miene vor, vom Text des Liedes von Kindheit an tief traumatisiert zu sein – wobei evident war, daß sie die Nummer vor chronisch schuldübernahmebereitem Publikum schon öfter vorgeführt hatte.
    Mir hatte man den ehrenhaft schwierigen Part des Schlußredners zugeteilt, der gegen 4 pm sprechen sollte. Dazwischen gab es eines der üblichen akademischen Mittagessen im Center of the Performing Arts, an dem man sich bei feuchten Sandwichs und zerkochten Nudeln über die Stärken und Schwächen der Architektur von Frank Gehry Gedanken machen konnte.
    Ich sprach vor der kleinen Thing-Gemeinde auf der künstlichen Insel, indem ich mich als Abgesandter von drei Hybrid-Wesenheiten vorstellte, die uns durch ihre Anwesenheit im Parlament der Dinge über den aktuellen Stand des terrestrischen Realitätsproblems informieren.
    Ich präsentierte mich
    a) als Botschafter des Large Hadron Collidors am CERN in Genf, wobei ich ein wenig boshaft die abstrakte Möglichkeit einer Entstehung von Black Holes bei den Urknall-Simulationen erwähnte – mit entsprechenden emotionalen Reaktionen;
    b) als Anwalt des ITER-Projekts in Cadarache, Bouche-du-Rhône, wo man die Arbeit an der Imitation des Sonnenfeuers vorantreibt, während ich auf die heliomimetischen Ambitionen der Erde hinwies, die es satt hat, nur ein Planet zu sein, und nun dank menschlicher Hybris eine Chance erhält, solar über sich hinauszuwachsen;
    schließlich c) als Ambassador der Internationalen Raumstation ISS, von der wir lernten, daß die sogenannte Natur das bisher mißverstandene Life Support System des Raumschiffs Erde ist.
    Da bog meine Rede mit Hilfe Buckminster Fullers um die Kurve zu Eliasson, indem ich daran erinnerte: Was wir Kulturgeschichte nennen, ist das Experiment, in dessen Verlauf das nicht mitgelieferte User’s Manual of the Spaceship Earth entwickelt wird: Eliassons Rolle hierbei ist darin zu sehen, die Interiorisierung der Natur in die Zivilisation mit seinen Mitteln voranzutreiben. Er hat tatsächlich Prometheus übertroffen. Er hat nicht bloß das Feuer gestohlen, er hat als Sonnendieb triumphiert, indem er die glühende Mitte unseres Planetensystems ins Museum stellte – wie es vor wenigen Jahren bei seiner triumphalen Ausstellung The Weather Project in der Londoner Tate Modern zu sehen war. Heute richtet er als isländischer Realitätsparlamentarier auf diesem Campus einen symbolischen Ort ein, der die globale Verhandlung sowohl bezeichnet als auch verkörpert.
    Genügend Motive für eine Rede von 15 Minuten.
    Abends gehen Regina und ich zum kleinen Campus-Friedhof in der Nähe des Präsidentenhauses, um die Gräber von Heinrich Blücher (gest. 1970) und Hannah Arendt (gest. 1975) zu besuchen. Danach lädt Leon Botstein ein zu einem VIP-Dinner in einem großen Zelt, das auf einer Hangwiese aufgestellt wordenwar, wodurch man Gelegenheit erhielt, die Gangart einer Schweizer Kuh zu üben. Über Tote und Campus-Menus nur Gutes.
    Die amerikanische Hochschule ist ein Kapitel in der Geschichte der ummauerten Gärten (walled gardens). Immer erklärt der Ort, was an ihm geschieht.
    Edmond de Goncourts Tagebücher über die Belagerung von Paris 1870/71, die ich hier antizyklisch lese, geben Aufschluß über Poesie und Delirium der Pariser Kommune.
    Gleichzeitigkeit ist ein abstrakteres Wort für Obszönität. Was zur selben Zeit geschieht, ist fast immer das himmelschreiend Nichtzusammenpassende.
    Während halb Paris in Hungeragonie liegt, zieht Goncourt fluchend durch die Stadt auf der Suche nach einem geöffneten Friseurladen. In den Faubourgs krepieren die Mittellosen, auf den Speisekarten der noblen Restaurants erscheinen Känguruh und Antilope, heimlich aus den Pariser Tiergärten herbeigeschafft.
    Das absurde Menu der Synchronizität prägt sich im Tagebuch viel schockierender aus als in der Zeitung – wieso?
    Was für fatale Illusionsmontagen Marx mit seiner opportunistischen Schrift über den Bürgerkrieg in Frankreich, 1871, und Lenin in seinem Essay über die Pariser Kommune vorgelegt haben, erkennt man erst, sobald man die trocken präzisen, obschon charakterlosen Notizen Goncourts dagegenhält.
    Nichts ist verlassener als eine Gästezimmerkommode auf einem Campus in Neu-England, der man ansieht, daß in ihren Schubladen seit ihrer Herstellung vor Jahrzehnten nie das kleinste persönliche

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