Zeilen und Tage
Objekt gelegen hat.
Wir lernten Lars Lerup, Professor für Architektur an der Rice-University, Texas, als Mitbewohner des Finberg House, dem Gästehaus des Colleges, kennen. Er hatte am Nachmittag das Eliasson-Event mit einem genialischen Paper animiert. Man meint, seine Aversionen gegen das Übermaß an Grün auf dem Campus zu verstehen: In seiner Jugend in Schweden, erzählt er, habe er immer in Gegenden gelebt, in denen der Wald die Aussicht verstellte und die Bäume die Häuser bedrängten. Unser Obdach hier steht auf einer Lichtung, doch spürt man die Möglichkeit, in einem Ozean aus grüner Langeweile zu ertrinken, ungeachtet der regelmäßigen Murmeltierbesuche vor der Veranda.
Im Gespräch mit Lerup gingen die Fenster der Intimität schnell auf. Wir erfuhren von einer Prostata-Operation, nach der man wieder pissen könne wie ein Vierzehnjähriger, von der Altersgelassenheit, die den Mann vom Jagdtrieb befreie beim Anblick der vielen beautiful things auf Leons Empfang, wobei beim Ex-Jäger noch immer eine sehr inklusive Ästhetik zugrunde liegt, und vom Viagrawunder, mit dem das verfluchte 20. Jahrhundert dem 21. wenigsten ein brauchbares Geschenk hinterlassen habe.
W. B.Yeats:
»The Best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.«
Weiter in den Tagebüchern von Edmond de Goncourt. Sie enthüllen etwas vom »Wesen« oder besser von der Vitalität der französischen Hauptstadt. Sie war – neben dem serenen Venedig – die stärkste Frivolitätsmaschine in Europa, die weder durch den Sturz Napoleons und die folgende Kastration des Landes, noch durch die preußische Belagerung von 1870-71, noch durch die deutsche Besatzung 1940-1944 zum Stillstand gebracht wurde. Für ein Volk, das sich täglich amüsieren will, gibt es keine Tragödie.
Was ein Amerikaner von Gott erwartet: a purpose-driven life.
18. Mai, New York City
Eine Wochenendausgabe der New York Times ist welthaltiger als ein Jahrgang deutscher Literatur.
Im Wirtschaftsteil schreibt ein smarter Journalist über den US-Außenhandel: China, das sind 2,6 Milliarden Füße, die auf Nike-Turnschuhe warten, und 13 Milliarden Finger, die nach dem Genuß von Kentucky Fried Chicken abgeleckt werden wollen.
19. Mai, New York
Das ehemalige Kulthotel der Künstler am Gramercy Park ist seit wenigen Jahren in die Luxus-Bohème-Sparte übergewechselt, was so viel heißt, wie daß jetzt Designer-Snobismus den Ton angibt, gedämpftes Licht und prätentiöse Preise für stylish aufgeppte enge Zimmer. Weit und breit kein Mensch, von dem man einmal sagen wird, er habe hier gewohnt und das Buch geschrieben, das ihn berühmt machte, statt dessen jede Menge Leute in Buschhemden von der 5th Avenue, mit metallenen Aktenkoffern in der Hand, begleitet von dunklen Escort-Königinnen, bei denen die Strumpfhose bis zur Halskette reicht.
Ursula anrufen.
Beim ersten Frühstück an der Park Avenue fällt der Blick auf eine Baustelle unter Gerüsten, an denen in Riesenlettern der Slogan zu lesen ist: »Not just another Park Avenue Facelift.« Die Logik des Kunstsystems hat auf die Real-Estate-Szene übergegriffen, der Einsicht folgend, daß man Dinge, die man teurer verkaufen will, mit verbaler Mehrwertschöpfung emporheben muß. Etwas vornehmer ausgedrückt heißt das: Die Diskursbezogenheit der Immobilie antwortet auf die Interpretationsbezogenheit des modernen Kunstwerks. Der nächste Schritt würde zur zynischen Affirmation führen: »Verschwenden Sie nicht Ihre Aufmerksamkeit! Nur wieder mal ein Facelift an der Park Avenue!« Bei solchen Angeboten würden die Konzeptkünstler zugreifen.
Weil Kunst in Überproduktion schwimmt, muß sie die Flucht in die Überbewertung des Wertlosen antreten – eine Form der Umwertung aller Werte, die Nietzsche noch nicht kannte. Der Schlüssel zur Erzeugung von Überwert liegt in der Umformulierung von Launen zu Notwendigkeiten. Der willkürliche Einfall will als Diktat von oben erscheinen, die an den Haaren herbeigezogene Idee gebärdet sich als tiefe unausweichliche Evidenz. So behauptet der Künstler, der den Kopf einer ausgestopften Ente durch eine Glühbirne mit einem Lampenschirm ersetzte, er habe es plötzlich einfach tun müssen, gerade so, als habe die Lampen-Ente selbst ihm befohlen, sie in die Welt zu setzen. Das Beispiel ist nicht von mir erfunden, es handelt von der Lampe neben meinem Bett. Offenbar will das neue Hotelmanagement auch bei den Beleuchtungen beweisen, wie sehr es sich, der Kunst
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