Zeilen und Tage
Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt das gern, was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es ist.« ( Grundlinien der Philosophie des Rechts , S. 47) Damit ist eine Aussage über den unfreien Menschen verbunden: Dieser täuscht den Willen zur Freiheit vor, um ungehindert zu zerstören, was er nicht in Besitz nehmen kann. Er will stürzen sehen, zu dessen Höhe er nicht aufsteigt.
Den Vandalen der Völkerwanderungszeit wurde nachgesagt, sie hätten Denkmäler einer Kultur, die sie nicht begriffen, umgestürzt, um zu demonstrieren, daß sie auch etwas können. Der Vandalismus der Gegenwart hat eine intimere Komponente. Er geht nicht vom Unverständnis für das Fremde aus, sondern von der kränkenden Wirkung des, nun ja, intelligenten Sichvergleichens mit den Leistungen anderer.
Bei Norbert Bolz klingt das so: »Der Haß auf den Feind wird ersetzt durch den Neid auf den Erfolgreichen.« ( Diskurs über die Ungleichheit , S. 113) Solcher Neid setzt eine Sekunde der Einsicht in die Lage voraus. Er tritt spontan bei Leuten auf, die nicht zugeben möchten, daß sie unwillentlich an Wettbewerben teilgenommen haben, und zwar erfolglos. Sie ziehen es vor, zu glauben, sie liefen hors compétition durch die Welt. Sie meinen, sie können nicht verlieren, weil sie als Vertreter des Guten a priori einen Platz auf jedem Podium haben.
In demselben Buch findet sich das Argument, wonach die »statusinkongruenten Intellektuellen«, bei denen Anspruch und Belohnung auseinanderklaffen, fast unvermeidlich der Versuchung erliegen, politisch nach links zu rücken, weil es für ihre Verdienste keinen Markt gibt – der Markt ist weder links noch rechts, sondern an Brauchbarkeit interessiert. Mangels Marktchance verlegen die Inkongruenten sich auf die Rolle der Vorsprechervon Gesinnungsgefolgschaften. Hier Führung auszuüben heißt auf Nicht-Märkten Gewinne einfahren. Das Hauptgeschäft der Gesinnungsautoren besteht darin, bei ihren Anhängern das Gefühl zu wecken, benachteiligt worden zu sein. Sie ernten, was sie gesät haben: Ressentiments.
Das ergibt eine abstoßende Ansicht von der Psychologie des linken Felds, gegen deren Plausibilität man wenig aufzubieten hat. Meine Ideen zu einer Linken aus Generosität hatten beim Publikum bisher wenig Glück, außer bei ein paar Spinozisten, den weißen Raben unter den Krähen. Nota bene, Spinozist ist, wer sich gegen die Grundlegung der Politik in den trüben Affekten entschieden hat.
7. Mai, Wien Karlsruhe
Was bei der Abreise bleibt, ist eine leise misanthropische Stimmung, kantianisch gesprochen ein »interesseloses Mißfallen«, wie es sich spontan beim Anblick von Mitreisenden auf dem Lauda-Air-Flug nach Frankfurt einstellt. Die Lage wird krankhaft verschärft durch eine akute Allergie gegen die Berieselung mit Popmusikpisse aus dem Bordlautsprecher vor dem Start. Ich hätte es als einen privaten Freiheitsbeweis verbuchen können, wäre es mir gelungen, vom pathologischen Widerwillen zum interesselosen Mißfallen zurückzukehren. Die Musik wurde beim Start abgestellt, ohne Rücksicht darauf, daß ich sie für meinen Ekelüberwindungsversuch noch eine Minute länger hätte brauchen können.
Vor der Haustür: Sendungen mit neuen Übersetzungen von Büchern. Gottes Eifer auf italienisch. Die Sonne und der Tod und Falls Europa erwacht auf portugiesisch. Sphären III. Schäume auf niederländisch.
8. Mai, Karlsruhe
In der Post eine Einladung nach Neuseeland, wo im Frühjahr 2010 eine Konferenz über »Radikalität« stattfinden soll. Man sagt, der Flug dorthin daure mehr als 20 Stunden. Ich kenne niemanden, der so lange in einem Flugzeug saß, um über Radikalität zu reden.
Belegexemplare der türkischen Übersetzung von Im Weltinnenraum des Kapitals . Ob man die Türken doch in das große Treibhaus aufnehmen sollte? Die italienische Version von Sphären I. Blasen . Die fünfte Auflage von Regeln für den Menschenpark auf spanisch bei Siruela. Die zweite Auflage von Derrida ein Ägypter .
Sah abends im SWR eine exzellente Sendung mit Wieland Backes und dem Bestseller-Psychiater Winterhoff sowie dem Pädagogen Rogge, in der über typische Erziehungsfehler der Gegenwart gesprochen wurde. Man ist sich einig: Seit den neunziger Jahren werden Störungen der Eltern-Kind-Beziehungen epidemisch. Der Grund: Zuviel Symbiose mit dem Kind; Überlastung der Kleinen durch partnerschaftliche Überforderungen seitens der Erwachsenen. Die gute Botschaft überwiegt jedoch, sie liegt in der
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