Zeilen und Tage
verdächtigen. Die Rechnungshöfe ahnen es, der Bund der Steuerzahler vermutet es, aber beweisen können sie es nie.
Wie der Staat zum ersten Akteur im Kreis der hilflosen Helfer wurde: Es genügt, daß eine bedrängte Branche, ein überschuldeter Großbetrieb, eine an die Wand gefahrene Bank hysterisch genug hinausposaunen, sie seien systemrelevant, schon muß die öffentliche Hand als Retter aus der Not erscheinen wie Maria den Halluzinierenden über einem sinkenden Schiff.
4. Mai, Wien
Abends im Palais Coburg ein »Kamingespräch« (ohne Feuer) mit dem Gouverneur der Österreichischen Nationalbank, Ewald Nowotny, über die allgegenwärtige Frage: »Kann der Markt alles regeln?« Die Urheber der Titelformulierung sind im Presse-Überbau der Organisation zu vermuten, in der man den Zeitgeist als Verfasser von Suggestivfragen versteht. Das Gespräch begann ein wenig mühsam. Mein Gegenüber, ein gutartiger, kluger Mann mit wohlverdienten akademischen Würden, hielt sich lange bedeckt und vermied jede Aussage, die weiter gegangen wäre als bis zu der Feststellung, die Lage sei kompliziert und unerwartet. Mir war bald klar, ohne Rettungsmaßnahmen würde der Abend an der Banalitätsklippe scheitern. Es ist sicher einfacher, eine leichtsinnige Bank zu retten als einen Dialog mit einem vorsichtigen Bankdirektor. Am Ende lag trotzdem ein Hauch von Zufriedenheit über der Szene. Die Gäste schienen froh, nicht nur die Statements gehört zu haben, die seit Monaten die Talkshows veröden.
Aus einem südafrikanischen Satire-Magazin: »Man hatte uns eine Pandemie in Aussicht gestellt, mit Millionen Toten jede Woche.Was bekam man statt dessen? Ein paar hustende Jugendliche in Hongkong, ein paar Touristen in Brasilien, die verschwitzter als gewöhnlich aus dem Flugzeug stiegen. Eine Welle guter Gesundheit hat Milliarden von Menschen erfaßt. Die Panik-Institute sind restlos überfordert.«
Während sich die westliche Mediasphäre mit der Schweinegrippe-Hysterie jetzt wie jedes Jahr einen Luxusalarm leistet, bei dem die biologischen Viren hinter den informatischen weit zurückbleiben, wütet in Afrika zum so und so vielten Mal eine unbeachtete Meningitis-Epidemie, die Tausende von Opfern fordert, bei Sterberaten zwischen 10%, rasche Behandlung vorausgesetzt, und 50%, wenn rechtzeitige Hilfe nicht kommt. Die einzige Zeitung, die ausführlicher davon berichtet, scheint die taz zu sein.
5. Mai, Wien
Mit Sacha Goldmann im Engländer, um unseren Collegium-Auftritt im französischen Senat kommenden Monat zu besprechen. Er erzählt von seinen wöchentlichen, einstündigen Telefongesprächen mit Paul Virilio, der sich an der Atlantikküste versteckt und gegen Paris grollt. Sacha bekennt, er habe oft Albträume: J’adore les cauchemars. Neulich habe er von zwei Männern in Regenmänteln und Hüten geträumt, die sich auf deutsch über ihn unterhielten. Es kann sich dabei nur um seine Deportation gehandelt haben. Nichts fasziniert ihn so wie Philosophen, die Selbstmord begehen, daher seine Anhänglichkeit an Benjamin und Deleuze.
Gestern im Palais-Coburg-Publikum: Ein soignierter älterer Herr in hoher Stellung bei einer Bank kam bei dem anschließenden Empfang auf mich zu und stellte sich als ehemaliger Assistent von Friedrich von Hayek vor. Als gewesener Bewohner des Neuberger Hofs an der Grünangergasse erinnert er sich anZeiten, als Peter Weibel und Valie Export dort wohnten, auch an Ransmayr, der auf der Pawlatsche Flöte gespielt haben soll. Ein anderer Hörer fand es beunruhigend, daß ich die aktuelle Lage nicht bloß mit Hilfe von Poppers österreich-geeichten Trial-and-Error-Prinzip – alias Lavieren in der ewigen Krise – hatte erklären wollen, sondern sie auch mit Dostojewskijs Verbrechen und Strafe in Verbindung brachte. Es war ihm gar nicht recht, daß es Irrtümer geben soll, die moralisch das Niveau von Verbrechen erreichen. Wäre es so, hätten Greenspan und Co. Verbrechen, nicht bloß verzeihliche Fehler begangen. Der Irrtum verlöre die Unschuld, an der bisher seine Straflosigkeit hing.
1844 notiert Darwin in einem Brief an Joseph Dalton Hooker, er habe erst spät an die Hypothese der Veränderlichkeit der Arten zu glauben gelernt: »It is like confessing a murder.« Wer die ewigen Arten lästert, begeht den Mord am alteuropäischen Naturbegriff. Vom älteren Konzept der Species begreift man post eventum, daß es auf der Transzendentalisierung des Langsamen beruhte – Heiner Mühlmann hat diesen Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher