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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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einholt?
    Was die Plato-Vorlesung an der Angewandten angeht, hat sich der Grundgedanke weiter geklärt: Die Kritik der Liebe gründet in der Unterscheidung der Energiearten Trieb und Sog oder besser: Appetit und Hingezogenheit. Das wurde schon durch die konventionelle Unterscheidung von niederem und hohem Eros angedeutet, ohne daß die alten Autoren recht begriffen hätten, was damit gesagt war.
    Trieb und Appetit fungieren als die »niederen« Energien, dieparadoxerweise schöpferisch in die Zukunft wirken, während Sog und Hingezogenheit die hohen Energien sind, die anamnetischen, homöostatischen und rückwärtsgewandten Tendenzen unterliegen. Das Rätsel ist, wie sich die Sexualität in die zurückgewandten Strebungen einmischt (Lacan meint sogar, das kann sie gar nicht: »il n’y a pas de rapport sexuel«). Noch mysteriöser ist es, wie das Fernweh, das scheinbar ins Neue und Weite tendiert, an das Streben nach Wiedervereinigung mit dem Ältesten andockt – in Blochs Terminologie: wie Exodus und Regression ineinandergreifen.
25. Mai, Wien
    Der eheliche Eros. In Economy buchen, in Business reisen. Haltbare Liebe hat viel mit Aufmerksamkeit für Upgrading zu tun.
26. Mai, Wien
    An der HfG gab es, wie ich durch telefonischen Bericht erfahre, gestern abend eine lebhafte Debatte zwischen Boris Groys und Jonathan Meese, bei welcher letzterer unsere jungen Leute mit der These begeisterte, Kunst heute sei so wunderbar, weil man bei ihr endlich gar nichts mehr können müsse.
    Bei solchen Äußerungen spekuliert Meese auf den Koan-Effekt: Jeder Hörer charakterisiert seinen mentalen Status durch die Bedeutung, die er dem Satz beilegt.
27. Mai, Karlsruhe
    John Cheevers Gefängnis-Roman Falconer wurde auf deutsch 1989 von Reclam Leipzig herausgebracht, als Dokument einer von innen kommenden Kritik an der entfremdeten westlichenGesellschaft, von der es heißt, in ihr sei die Verbindung zu den »humanistischen Überlieferungen« zerbrochen. Der Verfasser des Nachworts hütet sich davor, zu sagen, daß Cheevers Gedanken über confinement – Einsperrung – nirgends so aktuell waren wie in der DDR, wo man spätestens seit 1961 tatsächlich gut beraten war, fehlende Reisefreiheit durch Anhänglichkeit an humanistische Überlieferungen zu kompensieren.
    Bemerkenswert ist Cheevers Notiz, man habe in den USA von den dreißiger Jahren an den Übergang zur »permanenten Improvisation« wahrgenommen. Sie ist die psychohistorische Spur der Weltwirtschaftskrise nach 1929, die durch die Kriegsjahre und die anschließenden Prosperitätsjahre hindurchläuft. Heute erscheint sie wie ein natürlicher Teil des amerikanischen Sozialcharakters. Das modische Gerede von den neuen Nomaden bezieht sich rechtens nur auf die amerikanischen Mittelschichten, die seit damals mit der Entwurzelung leben. Von ihnen sagt die Statistik, sie brächten es im Lauf des Berufslebens auf durchschnittlich acht Umzüge.
29. Mai, Karlsruhe
    In der FAZ liest man, Leo XIII. habe in den Gärten des Vatikans, die beträchtlich sind, Meßwein anbauen wollen. Er scheiterte kläglich, denn vatikanischer Wein, das wußten schon die Römer, gerät saurer als Essig.
31. Mai, St. Blasien
    Abends wieder die vertraute Tierwelt auf dem Berg, Fidel, der Kater mit den ständig ausgefahrenen Krallen, Buddy, der lauffreudige Hund, und die braun-weißen Kühe, von denen die älteren in der Dämmerung ihre Wanderungen am Waldrand aufnehmen, wie Mönche eines animalischen Ordens, während die jungen Lust bekommen, auf der Wiese zu galoppieren.
    Am Kolleg werden die Festveranstaltung zu dessen 75jährigem Bestehen (1934-2009) mit einem glänzenden Vortrag von Dr. Mertes vom Canisius-Gymnasium in Berlin zum Thema Warum machen Jesuiten Schule? eröffnet. Hätte ich Einwände, so bezögen sie sich nicht auf das Gesagte, dem ich gerne folgte, sondern auf das Nichtgesagte. Will man über jesuitische Schulkompetenz reden – ich meine in historischer Sicht –, müßte man auch von der gegenreformatorischen Situation sprechen, aus welcher der Wille zum Lehren erwuchs. Man müßte vom Tridentinum sprechen, das man sich wie eine antiprotestantische Yalta-Konferenz mit angehängter Kirchenversammlung vorstellen muß, vom Konfessionskrieg, der bis 1648 dauern sollte, von der ozeanischen Konstellation und den zu missionierenden Völkern der Neuen Welt. Vor allem aber wäre zu reden von der allgemeinen Übertragung der Klosterdisziplin auf die Schuldisziplin und von der hierdurch ausgelösten

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