Zeilen und Tage
Austrian-Business-Passagiere mitbetreut, Alexander Pereira solle der neue Leiter der Salzburger Festspiele werden. Erster Gedanke: In der Krise kauft man nur Häuser in guter Lage. Und doch, vielleicht ist es ein Fehler, keinen Fehler zu riskieren.
Die Nie-Wieder-Stimmung auf dem Heimflug ist diesmal milder als bei der Februar-Reise, obwohl Reginas Fazit unerbittlich ist: Alles total überflüssig!
Die schönste Anekdote aus der jüngeren Geschichte der Philosophie: daß der erste traffic jam, den man je auf dem Broadway beobachtete, verursacht wurde von der Menge, die zusammenströmte, um bei Henri Bergsons New Yorker Rede an der Columbia University 1913 anwesend zu sein.
Verbringe über dem Atlantik eine leichte Stunde mit Simon Critchleys Book of Dead Philosophers , aus dem man weniger über das savoir mourir der großen Geister lernt als über die Neigung des alternden Geisteswissenschaftlers zur Kapitulation vor der Anekdote. In der Tendenz ist Critchley dem Ansatz von Du mußt dein Leben ändern nahe: Philosophie ist Training in Sterblichkeit, hierin dem älteren Christentum verwandt.
22. Mai, Wien
Levinas: »Je me moque bien de l’éthique. Seule m’importe la sainteté.«
Levinas wiederholt den Irrtum Kierkegaards: zu glauben, das Religiöse spiele sich ein Stockwerk oder ein »Stadium« höher ab als das Ethische. Ein höheres Stockwerk gibt es nicht, aber im Ethischen existiert eine alpine Dimension, voll von Steilhängen, Schluchten und Paradoxien. Levinas hätte wissen müssen, daß das Judentum keine Religion ist, sondern ein erbliches Exerzitium und daß es keine Heiligkeit gibt, sondern nur die spirituelle Hochform.
Guy Debord: »Obwohl ich viel gelesen habe, habe ich doch mehr getrunken. Ich habe weniger geschrieben als die Mehrheit der Leute, die schreiben, ich habe mehr getrunken als die Mehrheit der Leute, die trinken.«
Wenn Karl Deutsch sagt, Macht sei das Privileg, nicht lernen zu müssen, möchte man fragen, welches Privileg mit der Ohnmacht verbunden ist – vielleicht das, andere zum Helfen zu nötigen.
Abends beim Heurigen im Pfarrhof von Heiligenstadt, nicht weit vom Beethovenhaus, mit Maria und Vincent, die von ihrem Aufenthalt in Hongkong erzählen. Wir sitzen unter einem riesigen blühenden Rosenstrauch im Freien, inmitten von Weinlauben in milder Luft. An den anderen Tischen Gäste aus aller Welt, vor allem Chinesen, es ist in Ordnung, daß sie es sind, die diesmal den weiteren Weg haben. Vincent besitzt den Vorzug, klare Vorlieben und Aversionen mitzubringen, so prägnant, daß sie im Land des Manns ohne Eigenschaften wie Familienjuwelen glänzen, etwa die Überzeugung, daß Prosecco infam ist, spanischer Schaumwein indiskutabel, deutscher Sekt hingegen annehmbar.
Als es noch Charaktererziehung gab, wurden die Zöglinge aufgefordert, ihre Fehler so klar wie möglich aufzudecken – wie anders hätte man den Kampf mit ihnen aufnehmen können? Heute lernen wir von Anfang an, es sei am besten, sich selber anzunehmen, wie man ist. Man wäre fremdenfeindlich, wollte man an dem Anderen in uns selbst etwas ändern.
Das amerikanische narcissistic klingt wie ein unregelmäßiger Komparativ zu unserem narzißtisch.
24. Mai, Wien
Erik Voegelin notiert irgendwo, der Ausdruck »climate of opinion« sei von Whitehead geprägt worden.
Beachtlich scheint mir, wie sehr sich Voegelin entschlossen zeigt, nur ein einziges Volk Gottes anzuerkennen, das der Philosophen, und unter diesen wiederum allein die wahren, die sich an die Weisungen Platos und Aristoteles’ gebunden wissen. Ihm rechnet er sich mit all der Inbrunst zu, die einem Alteuropäer im Exil zu Gebote steht. Die bloße Existenz dieses nicht-ethnischen Volks macht in seinen Augen, daß es »Ordnung in der Geschichte« gibt. Alle anderen Träger des Gottesvirus seit den mystischen Bewegungen des 14. Jahrhunderts werden von ihm als moderne Gnostiker, sprich als Träger des Selbstvergottungswahns, abgekanzelt.
Der Gnostiker jedoch, gegen dessen Schatten er kämpft, ist niemand anderer als er selber. Das hat Altizer richtig gesehen, als er ihn einen Doppelgänger Hegels nannte (»a dialectical twin«). Wie tief dieser Schlag geht, ist nur angemessen einzuschätzen, wenn man sich davon überzeugt hat, daß Voegelins Versuch über Hegels »Hexerei« eine apokalyptische Demontage darstellt, neben der Poppers Antihegelschrift Die offenen Gesellschaft und ihre Feinde wie ein Kinderbuch wirkt. Wie nun, wenn die Demontage den Demonteur
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