Zeilen und Tage
Verlierers imprägniert war.
7. Juni, Wolfsburg
Einige Splitter aus dem Gleichzeitigen: Die ersten Leichen von Passagieren des vor der brasilianischen Künste verunglückten Air-France-Flugs wurden gefunden. David Carradine ist beim Extrem-Masturbieren mit einem Seil um den Hals in Bangkok tödlich verunglückt. Finanzexperten sehen die nächste Blase anschwellen – die Flutung der Geldmärkte ist erfolgt, die Entwässerung scheitert wie gewohnt.
Auf die Frage des heutigen Quartetts »Was hält Gesellschaften (noch) zusammen?«, die wir mit Juli Zeh und Meinhard Miegel diskutieren werden, scheint mir die triftige Antwort die zu sein, die ich in der Berliner Rede Der starke Grund zusammen zu sein angedeutet hatte: Was »uns« als Staatsvolk zusammentreibt undbeieinander hält, ist ein autogenes Stressfeld, produziert durch permanente massenmediale Sorgenkommunikationen, in deren Zentrum das Sozialtransfersystem steht. Im schlimmsten Fall wird das Feld verfestigt durch versklavende Erzählungen von den Heldentaten, den Verbrechen, den Leiden der eigenen Nation.
Die Kritik der pathologischen Kommune ist eine Arbeit, die nie ans Ende kommt.
Juli Zeh hat in ihrem Roman Corpus delicti Orwell geschickt modernisiert: Aus dem Großen Bruder ist die Totale Krankenkasse geworden, aus der Stasi eine invasive Gesundheitsbehörde mit Desinfektionsvollmachten, die bis zur Auslöschung reichen. Nur einige Anarchisten treiben sich im »unhygienischen Wald« herum. Diese wenigen Saboteure reklamieren noch immer ein vollständiges Leben mitsamt Rausch, Schmerz, Absturz und Scheitern, all diesen hassenswerten Anachronismen aus dem ancien régime der Seele. Hinterbliebensein gilt als eine Krankheit aus dem 20. Jahrhundert, physische Liebe als ein unhygienisches Relikt.
Wahr ist an dieser dunklen Vision, daß eine Nur-Körper-Welt vor uns liegen könnte. Ungewiß ist, ob wir sie als drohendes Übermaß an Gesundheit erleben werden.
8. Juni, Wien
An der Angewandten eine animierte Vorlesung über die Sokrates-Rede im Symposion . Jetzt komm ich noch zweimal und dann nimmermehr.
Man liest, Sarkozy habe im Sinn, die in Frankreich herrschende »Kultur der Pose« durch eine »Kultur des Resultats« zu ersetzen.
9. Juni, Wien
Winnicott und die Finanzkrise. Niemand glaubt mehr an die Vertrauenswürdigkeit der Personen, die den Staat repräsentieren, zugleich verlangt man mehr denn je, daß sich der Staat als Haltgeber erweist. Holding ist erste Politikerpflicht. Wie die ausgebrannte bürgerliche Mutter muß der ausgehöhlte moderne Staat nicht mehr durchaus gut sein, sondern »gut genug«. Die neue Politik ist das Management von kollapsnahen Zuständen.
10. Juni, Wien
Kein Tag wie jeder andere, zieht man in Betracht, daß heute eine Geschichte endet, die vor 20 Jahren mit meinem Eintritt ins Kollegium der Akademie der Künste Wien am Schillerplatz in der Ära Pruscha im Status eines Gastdozenten begonnen hatte. Noch ist mir das überschäumende erste Jahr in Erinnerung, als ich zwischen Bard College und dem Schillerplatz pendelte und zu einem Experten in Jetlag-Seminaren wurde – die Sitzungen dauerten damals fünf Stunden und mehr.
Hätte es ein besseres Ende geben können als ruhige Arbeit am Wortlaut des Plato-Dialogs bis zur letzten Minute? Dann einige Abschiedsworte, Blumen, Zigarren, Champagner. Kaum melancholische Momente, in der Summe Erleichterung.
11. Juni, Wien
Die Wiener Akademie war immer schon eine beschützte Werkstätte gewesen. Wer dort tätig war, mußte wissen, daß man sich in einem solchen Milieu nicht länger aufhält, ohne daß der Ort auf den Besucher abfärbt. Ein Hauch von Degradierung bleibt haften, sollte man noch so gute Arbeit geleistet haben.
Finde auf dem anregenden Blog weissgarnix eine Wiedergabe meines Interviews mit Robert Misik im Falter . Dazu eine Flut von Leserkommentaren mit überwiegend negativer Tendenz, oft durchsetzt von abstrakter Feindseligkeit, die von anderswoher mitgebracht wirkt und sich unmöglich am Wortlaut des publizierten Gesprächs entzündet haben kann. Die Grobheit der Beiträge ist beachtlich. Nacht ist es: nun rülpsen lauter alle Ausgüsse.
Auf demselben Blog wird daran erinnert, daß Angela Merkel im Jahr 2005 zusammen mit einer Gruppe von CDU-Abgeordneten eine Anfrage an die Regierung Schröder eingereicht hatte, wie man die noch bestehenden Hindernisse gegen den Derivate-Handel zu beseitigen gedenke.
Alain Baraton, L’amour à Versailles . Das Verhältnis von Hof und
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