Zeilen und Tage
eine Trias aus Arbeitslosen, Strafgefangenen und Bohèmiens zur Daseins-Norm in derwestlichen Welt. An diesen Forderungen ist eine gewisse Toleranz lobenswert: Denen, die mehr leisten und verdienen wollen, wird das gute Recht zugestanden, die Gesellschaft der bedingungslos Versorgten zu alimentieren. In Cheevers Gefängnis-Roman Falconer sieht man, worauf ein derartiges System hinauswill: Grundversorgung plus Methadon oder Brot und Illusionen.
Man sollte im übrigen endlich zugeben, daß es keinen Nobelpreis für Literatur mehr gibt. Es werden drei Nobelpreise für gute Absichten verliehen – einen, den man gewinnt, wenn man die guten Absichten mit literarischen Mitteln ausgedrückt hat, einen, den gewinnt, wer gute Absichten aktivistisch beweist (Friedensnobelpreis), und einen, den bekommt, wer die guten Absichten in mathematische Formeln verkleidet (Wirtschaftsnobelpreis).
Gott ist tot: Der alte Herr hat keine Agenda-Kompetenz mehr. Die Welt, die in sechs Tagen zu erschaffen war, wird nicht in sechs Tagen zu retten sein. Es wird sich zeigen, daß das Aufhalten des Zerfalls anspruchsvoller ist als die Schöpfung.
Man muß das Motiv Dekreation in den Seelenhaushalt der künftigen Generationen infiltrieren.
6. Juni, Karlsruhe
Isaac B. Singer ist ein Zeuge für die These, daß erzählen und Märchen erzählen auf eins hinauskommen. Sein Buch Verloren in Amerika transportiert diskret die Suggestion, das Herumirren in den USA sei aus spiritueller Sicht genauso verheerend wie das Zugrundegehen des Judentums in Polen.
»Er geht hinein ins Wasser, bleibt dort stehen und denkt nach.« ( Verloren in Amerika , S. 307)
Die Vertreibung aus der jüdischen Orthodoxie wird als eine geistige Katastrophe erlebt, für die es noch keine Ausdrücke gibt. Wie könnte man heimisch werden in einem Land, dessen Bewohner der täglichen Zwangsfütterung mit Kitsch unterworfen sind?
Singer notiert, die Genitalien seien die glühenden Verfechter der wahren Liebe, ausgerechnet sie, die man so oft für Heuchler hält.
Was er aus dem Ghetto mitbringt, ist die monotheistische Skepsis gegen die Baale des 20. Jahrhunderts, die jetzt Gertrud Stein, Pablo Picasso, G.B. Shaw oder Ezra Pound heißen: modische Substitute der Götzen aus Stein und Lehm.
Anziehend an Singers Erzählkunst ist, daß sie die Herkunftslasten des Autors, seine erotischen Verstrickungen, seine psychotischen Episoden, seine religiösen Tics in den Feuerofen wirft, in dem aus Verwirrungen Geschichten entstehen. Bei ihm verwandelt sich alles Gewesene in Material zu einer selbsttherapeutischen Übung. Es scheint jedoch, als habe er außer Sex und Schreiben nie etwas getrieben, was auch nur von ferne einem geregelten Exerzitium glich.
Isaiah Berlin (1909-1999) wäre am heutigen Tag einhundert Jahre alt geworden. In der SZ erscheint eine Erinnerung an den klugen Mann, der hinter den preisreduzierten Superlativen zu seinem Lobe fast ganz verschwindet. Aber wie einen Causeur vergegenwärtigen, dessen Hauptwerk seine Konversationen waren?
Besser macht es Henning Ritter in der FAZ , der Berlins noble Skepsis aus dem Grundgedanken herleitet, wonach es keinen hervorgehobenen Standpunkt für letzte Wahrheitsurteile geben könne.
Ritter zitiert eine bezeichnende Invektive Berlins gegen Hannah Arendt: Sie sei »schrecklich unsympathisch« gewesen und habe empörende Urteile über jene Juden gefällt, die sich wehrlos und still zur Vernichtung führen ließen, ohne auf den Gedanken zu kommen, zu kämpfen. Berlin wollte nicht verstehen, daß sein eigener geistreicher Kosmopolitismus die elegante Blüte am Baum eben der alten jüdischen Passivitätskultur war, mit welcher Hannah Arendt in ihren politischen und moralischen Entscheidungen nach 1945 gebrochen hatte – hierin den Gründern des wehrhaften Staats Israel verwandt. So spiegelt sich in Isaiah Berlins Antipathie gegen Hannah Arendt etwas vom Drama des Judentums im 20. Jahrhundert wider. Dessen Weg führte von der gelehrt ergebenen Frömmigkeit zur kämpferischen Selbstaffirmation, und wie sollte diese nicht »schrecklich unsympathisch« sein?
Bei der Lektüre von Ritters Aufsatz kommen Erinnerungen an Jacob Taubes zurück, den ich selber sagen hörte, der Staat Israel sei metaphysisch notwendig und man müsse das Land nötigenfalls mit Blut verteidigen. Ob er dabei an sein eigenes dachte? Und das bei einem Mann, der als Sohn des Großrabbiners von Wien in der schwereren Hälfte seines Daseins von der Kultur des traurigen
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