Zeilen und Tage
Hochschulkulturen in Europa fordert – wie üblich, ohne genügend auf die Erfüllbarkeit der Konvergenzkriterien zu achten. Der kognitive Euro führt ebenso in die Überforderung der schwächeren Länder wie der monetäre. Das wird bald so weit gehen, daß man in den stärkeren Ländern in letzter Minute versucht, von Vorzügen zu retten, was nach der Vereinheitlichung noch zu retten ist – zum Beispiel die hoch angesehenen deutschen Diplome, die nach der Reform nur noch soviel wert wären wie die aus den USA eingeschleppten toxischen Kredite.
20. Juni, Berlin Weimar
Wie Benedikt XVI. es mit der Moderne hält, geht aus seinen Zitaten hervor. Zwar wagt er noch nicht, sich offen auf de Maistre oder Berdjajew zu berufen, doch der Pfarrer von Ars ist offensichtlich ein Mann nach seinem Geschmack. Er zitiert ihn mit dem Satz: »Lasse eine Pfarrei 20 Jahre ohne Priester, und man wird dort die Bestie anbeten.« Soeben ließ er das balsamierte Herz des Pfarrers, der seinen Schäfchen die Kommunion verweigerte, wenn sie tanzen gingen, nach Rom bringen, um den Schatz an magischen Pfändern des Antimodernismus zu vergrößern.
Was hatten Gelehrte, Beamte und Geistliche im ancien régime der Metaphysik gemeinsam? Die Berufung zur Auslöschung ihrer Eigeninteressen. Was überlebt davon? Vielleicht die Bereitschaft, die eigene Befangenheit in einer unauslöschlichen Nervosität zu gestehen. Wenn sich das Subjekt nicht selbst liquidieren kann, kann es sich doch offenlegen.
Das Gartenfest des Bundespräsidenten am 19. Juni war zunächst unter keinem günstigen Stern gestanden. Das Wetter wirkte wie von der Opposition bestellt und die Zahl der erwarteten Gäste beleidigend hoch. Nach Auskunft der Polizisten am Eingang zum Schloß Bellevue wurde mit 5000 Besuchern gerechnet. Schon das Anstehen im Regen an der Einlaßkontrolle könne 30 Minuten dauern. Grund genug, die Pläne zu ändern und in Richtung Berlin Mitte abzudrehen.
Im Borchardt wie so oft: eine Lektion in angenehmer Urbanität. Überraschend war das Wiedersehen mit Bernd Eichinger nach sehr langer Zeit, das auf beiden Seiten nicht ohne Rührung verlief. Bernd hatte beim Alkoholspiegel einen uneinholbaren Vorsprung, der sich sentimental bemerkbar machte. Was sollst du erwidern, wenn dir ein Studienkamerad von vor 30 Jahren etwas lallend erklärt, du seist sein einziger wirklicher Freund gewesen? Doch die alte Sympathie war auf der Stelle wieder da, wir erinnerten uns an die vielen Abende in München in der Triftstraße, an denen wir mit unserem Gelächter die Wohnküche von Jussuf und Gertrud in Brand gesetzt hatten. Verbunden waren wir damals vielleicht durch eine Ahnung davon, wie weit die Lebenswege uns bringen würden. Er war in Begleitung seiner neuen Frau, Katja, die ich noch nicht kannte. Seine Zuneigung zu ihr war evident, fast flitterwochenartig explizit, vielleicht ein wenig verzweifelt. Da auch Bernd und Katja zum Präsidentenfest eingeladen waren, unternahmen wir kurz nach zehn Uhr einen zweiten Versuch, bei dem wir uns nach einem problemlosen Einlaß aus den Augen verloren.
Am nächsten Tag mit dem Zug nach Weimar, wo wir im Hotel Elefant untergebracht waren, natürlich alles fabelhaft und historisch gesättigt, wenn nur eine gewisse falsche und dünne Feinheit nicht wäre.
Am Nachmittag um halb vier begann in der Weimarhalle die Zeremonie zur Verleihung des Kritikerpreises des Bundes Deutscher Architekten, bei der Prof. Mönninger aus Braunschweig eine für mich sehr ehrenhafte Laudatio hielt – auf einem so glänzenden Niveau, als sei Übertragung der Philosophie an die Architekturtheorie beschlossene Sache. Mit einer halbwegs passablen Dankrede versuchte ich meine Schulden bei Veranstalter und Laudator zu begleichen. Den Abend beschloß ein Empfang in der Villa Haar am Hochufer der Ilm.
21. Juni, Karlsruhe
Vor der Tübinger Rede
Eines Tages wird man eine Nachschrift zu Sein und Zeit verfassen, die von den mehrfachen Stiftungen der nicht-physikalischen Zeit handelt.
Nicht-physikalische Zeit meint existentielle Zeit, sprich die vom Dasein und den Tendenzen seiner »Sorge« »gezeitigte« Zeit, die durch das Herz der Subjektivität geht.
Existenzzeit ist nicht einsinnig, sie wird mehrfach gesetzt, da in ihr unterschiedliche Fäden der Daseinsspannung ineinander gedreht sind: Zuerst wird sie durch die Forderung nach Gerechtigkeit – oder nach Leidensausgleich – ausgespannt. Sie setzt ein vorauslaufendes Sein-zum Ziel in Kraft, das man auch
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