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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Volk war keineswegs das von Brioche und Brot. Wenn das Volk kein Brot hat, was tut man in Versailles? Die Höflinge vögeln sich die Seele aus dem Leib.
12. Juni, Wien
    Natur, ohne Romantik betrachtet: der schmale Grat der erfüllten conditions of felicity, auf dem das menschliche Leben – wie alles andere Leben – wandert, inmitten von übermächtigen Zonen der Unlebbarkeit. Adornos Mahnung zum »Eingedenken der Natur im Subjekt« ist romantisch, weil sie die Fast-Unmöglichkeit des Lebens abblendet.
    My charms I’ll break, their senses I restore,
    And they shall be themselves. ( The Tempest , 5. Akt, 1. Szene)
15. Juni, Karlsruhe
    Mitterrand hat gern das Diktum »il faut donner du temps au temps« im Munde geführt, indes nicht bekannt ist, ob er das spanische Original: »dar tiempo al tiempo« kannte, das auf Calderon und Cervantes zurückgeht. Hiergegen wäre an eine wichtige Unterscheidung zu erinnern. Der Zeit Zeit geben ist eine richtige Maxime für die Sphäre der Hoffnung und des Handelns. In ihr stiften neue Tage neue Gelegenheiten. Daher muß man in der moralischen und politischen Welt warten können, bis die Chance, es besser zu machen, wiederkehrt. Der Satz gilt nicht für die Sphäre der Prozesse, in der die Uhren ablaufen und wo die Unumkehrbarkeit regiert. Das Prinzip Hoffnung ist das eine, das Prinzip Dringlichkeit das andere. Diesen Punkt hat Hans Jonas gegen Ernst Bloch klargestellt. Es ist der Einspruch der Ethik gegen die Schwärmerei. Wird das Dringliche nicht erledigt, ist auch die Hoffnung vergeblich.
18. Juni, Karlsruhe
    Warum keinen Roman über die reale Ökodiktatur schreiben? Darin wird geschildert, wie man versucht, die Menschen vom schädlichen Umgang mit zerbrechlicher Natur abzubringen. Kaum etwas ist schädlicher als die Neigung vieler Leute, große Entfernungen zurückzulegen, um anderswo zu tun, was sie besser zu Hause täten, etwa sich zu erholen. Folglich werden in der ökologisch berichtigten Welt alle Menschen, die gerne reisen, auf einer Liste von Verdächtigen erfaßt. Überschreiten sie ihr zugebilligtes Kontingent an CO ² -aktiver Mobilität, werden sie abgemahnt. Fahren sie mit ihrer unsinnigen Reisepraxis fort, werden sie in großen Lagern interniert, in denen Reisefrevler und sonstige übermobile Subjekte ohne Sonderlizenz eine rigide Umerziehung zu sedentären Tugenden erfahren.
    Scheitern diese Maßnahmen, werden die exzessiven Philobaten – wie man seit Balint die Weite-liebenden Herumtreiber nennt – eingeäschert, zu Diamanten gepreßt und in die große Diamantenmauer eingefügt. Mit dieser Mauer zeigt der Ökostaat, wie aus Umweltschädigern zu guter Letzt nützliche Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft werden können: Bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang leuchtet die Diamantenmauer in überirdischer Schönheit auf und beweist den seßhaft Lebenden, daß das Schönste, was die Erde zu bieten hat, ganz in ihrer Nähe steht. Dem schädlichen Fernweh wird mit einer radikalen lokalen Ästhetik abgeholfen.
    Man wird den 18. Juni 2009 als einen Todestag in Erinnerung behalten, den von Ralf Dahrendorf.
    Klonovsky, der Stilist vom Focus , meint es mit dem Jubilar von heute nicht besonders gut, wenn er statuiert: »Für Habermas-Sätze ist das Leben zu kurz.« Als ob das nicht genug wäre, fügt er hinzu: »Seine Werke sind in alle Sprachen übersetzt worden, nur nicht ins Deutsche.«
19. Juni, Karlsruhe Berlin
    Der sonst so subtile Michel Serres weckt mein Mißtrauen, wenn er meint, mit einem Epistemologischen Eid – von dem er möchte, er solle in Analogie zum hippokratischen Eid von allen Wissenschaftlern geleistet werden – solle die Wissenschaft geloben, sich in den Dienst der Gleichheit unter den Menschen zu stellen. Sofort sieht man den Helmbusch über dem Kopf des egalitären Ritters wehen, der sich im Näherkommen als ein in die Wissenschaften verirrter Jakobiner zu erkennen gibt. Jakobiner waren es, die die tödlichste Unterscheidung einführten, die je zwischen Menschen gezogen wurde: die Unterscheidung zwischen denen, die den jakobinischen Gleichheitsforderungen zustimmen, unddenen, die das nicht tun. Man müßte dem liebenswerten Michel Serres empfehlen, die Schwarzbücher der Gleichheitspolitik aufzuschlagen, um nach deren Studium zu erklären, was »Dienst der Gleichheit« künftig bedeuten soll.
    Heute vor zehn Jahren haben 29 europäische »Bildungsminister« das Bologna-Dokument unterzeichnet, das eine Homogenisierung der nationalen

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