Zeilen und Tage
gemeinsam abgehaltenes Rigorosum zum Thema »Der Blick des Anderen«. Boris erinnert an eine Episode im Leben Che Guevaras, als ihn die bolivianischen Eingeborenen festsetzten, ohne Rücksicht auf seine Meinung, er sei als Befreier zu ihnen gekommen: In ihren Augen war er nichts anderes als ein gewöhnlicher Weißer, der sie manipulieren wollte wie alle anderen vor ihm.
Edmund Burke bewies Hellsicht, als er 1790 statuierte, das Credo der Menschenrechte werde für die Franzosen zu einem Hebel imperialistischer Politik werden. Er verzichtete allerdings auf den Hinweis, daß England schon früher zu einem Imperialismus ohne menschenrechtliche Vorwände aufgebrochen war, getragen von der Überzeugung, die weltweite Verbreitung britischer Manieren sei als Legitimation mehr als ausreichend.
Von Burke stammen die schönsten Sätze über die Notwendigkeit, den Reichtum in den Dienst der Tugend und der Ehre des Gemeinwesens zu stellen, sowie die luzidesten Prophezeiungen von sozialer Dekadenz für den Fall, daß sich der Reichtum aus diesen Dienstbarkeiten losreißt.
In der Moderne ist die Barbarei überall die Spur der Enterbung. Die Hauptübel der Zeit, Nationalismus, Imperialismus, Fundamentalismus sind immer die Erfindungen von Habenichtsen, die für sich selbst Nationen, Reiche und Fundamente fingierten, mit denen sie nach Herkunft und Bildung nichts zu tun hatten. Besonders typisch ist der Fall Osama Bin Ladens, wenn er den Islam für seinen Feldzug funktionalisierte, der ihm, dem modern erzogenen Sohn eines irreligiösen Milliardärs, zunächst ganz fremd war. Es sind die Bastarde, die wie verrückte Hunde nach der Legitimität bellen.
19. Juli, Karlsruhe
Bilder von der Bergankunft bei der 15. Etappe der Tour de France.
Die Götter, so Montesquieu, haben die Freiheit fast ebenso mühsam gemacht wie die Knechtschaft, und doch muß man sie wählen, gleich um welchen Preis.
20. Juli, Karlsruhe
Wolf Lepenies schreibt in Welt-online einen lakonisch noblen Nachruf auf Leszek Kolakowski, der vor drei Tagen im platonischen Alter von 81 Jahren gestorben ist. Am besten hat Kolakowski sich selbst portraitiert, als er sich einen »konservativ-liberalen Sozialisten« nannte. Er war ein bon-sens-Philosoph von respektabler Statur, ohne Größe, ohne Zwergenhaftigkeit, mutig in einer Zeit, als es galt, dem senilen, doch immer noch mordbereiten Monstrum Marxismus-Leninismus den letzten Stoß zu versetzen. Er war klug genug, zu wissen, daß ideologisch fundierte Diktaturen nicht durch Dissidenten gestürzt werden, sondern durch Häretiker im Inneren des Apparats.
Albert Camus: »Indem man die Dinge falsch benennt, trägt man zum Übel in der Welt bei.«
Bekomme vom Hanser Verlag das neue Buch von Boris zugesandt: Einführung in die Anti-Philosophie , das die Umstellung des Denkens von Kritik auf Diktat behandelt. Darin luzide Essays über Benjamin und Derrida.
21. Juli, Karlsruhe
Kolakowski äußerte in der Gazeta Wyrborcza die Meinung, der »Glaube« sei etwas, was das Leben der Gläubigen »bereichere«. Der Satz klingt hohl: Der Sprecher ist nicht in ihm enthalten. Im religiösen Sinne war Kolakowski selbst durchaus ungläubig, doch an den Glauben der andren glauben, das wollte er. Was unter Bereicherung zu verstehen sei, vermochte er nicht überzeugend zu sagen. Möglicherweise unterstellte er, der Sinn des Ausdrucks sei nicht erläuterungsbedürftig. Aber nichts ist weniger bewiesen als die Vorstellung vom Glauben als Bereicherung derGläubigen – er könnte genausogut die schlimmste Entfremdung und die Kolonisierung der Psyche durch das Absurde bedeuten.
Tatsächlich liefert Kolakowskis These einen Beleg für die melancholische Position der Modernen. Deren erste und letzte Evidenz beim Blick nach innen ergibt den Befund, daß sie von nichts ganz überzeugt sind. Ihr Leben vergeht in »innerer Zerflossenheit«, um mit Fichte zu reden. Im wesentlichen bleibt es für sie bei einem Halbleben, unterbegeistert, untermotiviert, unterüberzeugt. Das massenhafte träge Dasein hat einen großen Vorsprung vor dem beflügelten Streben – ganz wie es die Existentialisten mit ihrem Diktum statuierten, wonach die Existenz der Essenz vorausgeht. Ich bin da, und mit mir ist nichts los. In dieser Lage glaube ich gern, daß der Glaube, wenn ich ihn hätte, mich bereichern würde. Glaube ist nur ein anderes Wort dafür, daß mit dem Gläubigen etwas los zu sein scheint. Wer an die Bereicherung durch den Glauben glaubt, verrät, daß er
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