Zeilen und Tage
sinngemäß bei Autoren wie Ortega y Gasset, Camus und Sartre wiederkehrt (S. 96). Die ganze Empfindungsart des Inselvolks, sagt Burke, verwahre sich gegen die tumultuarischen Vorgänge auf dem Festland. »Die bloße Idee einer neuen Verfassung ist hinreichend, um einen wahren Briten mit Ekel und Abscheu zu erfüllen.« (82) Die dilettierenden Idealisten in Frankreich, meint der Erzvater der modernen Konservativen, stürzten ihr Vaterland ins Elend. Sie nötigten ihrem Volk, dem sie zu dienen vorgeben, das unvorteilhafteste aller Tauschgeschäfte auf. »Frankreich hat Armut mit Verbrechen erkauft.« (92)
Heft 104
30. Juli 2009 – 9. November 2009
30. Juli Karlsruhe
Aus Mallorca treffen Nachrichten ein über die jüngsten Bombendummheiten, die wieder die Handschrift der ETA tragen. Die Insel befindet sich im Belagerungszustand, alle Verbindungen nach außen sollen gekappt sein. Weit und breit niemand, der die »Notwendigkeit« der Maßnahmen nicht einsieht, obwohl sie evidentermaßen nur symbolische Bedeutung haben können. Die Dinge laufen ab, als ob die Polizei, sobald Schlimmes passiert ist, sofort in den Modus des magischen Denkens umschalten müßte. Unter allgemeiner Anteilnahme vollzieht sie mit dem Vorwand der Tatortsicherung das bekannte Ritual zur nachträglichen Verhinderung des Geschehenen.
Aus der Lebensgeschichte Marilyn Monroes werden berührende und beunruhigende Details bekannt. Sie soll Rilkes Briefe an einen jungen Dichter gelesen und als heilende Lektüre empfunden haben. Insgesamt 13 Abtreibungen habe sie hinter sich gebracht, doch werden auch andere Zahlen genannt. Ob dreizehn verheerender sind als sieben, ist ungewiß, wenn man in Betracht zieht, daß oft schon eine einzige von den Frauen, die sich dazu entschließen, als eine Katastrophe erlebt wird. Manche denken zeitlebens an das nie geborene Kind und sagen sich, es wäre heute so und so alt. Aufgrund ihrer Tablettensucht soll Marilyn Monroe mehrere Fehlgeburten erlitten haben. Erwiesen scheint, daß sie Psychotherapeuten wie eine Kettenraucherin verbrauchte, wobei sie im Lauf der Jahre den Jargon der Selbsterfahrung erlernte. An einem Punkt ihrer therapeutomanischen Entwicklung warsie fähig, zu erklären, sie habe sich stets als ein pures nobody empfunden. Die einzige Chance, ein Jemand zu werden, habe sie darin gesehen, sich in eine andere zu verwandeln als die, die sie wirklich war. Solche Auskünfte wirken zuerst ergreifend, dann machen sie mißtrauisch – bis sich die Frage meldet, was in ihrem Fall die tiefere Entfremdung bewirkte: ein Spielzeug für die aufgeregte Männermeute zu sein oder ein Wiedergabegerät für invasives Psychogerede.
Der Tod von Peter Zadek gibt Anlaß zu der Beobachtung, daß praktisch alle Nekrologe, gleichgültig, wem sie gelten, dasselbe mit denselben Worten sagen. Offensichtlich ist unser Trauer- und Abschiedswortschatz auf wenige Wendungen beschränkt, die man in mehr oder weniger hilflosen Kombinationen hin und her dreht. Christine Dössel von der SZ , die seit jeher gern mehr sagen möchte, als sie sagen kann, rüttelt an den Gitterstäben der Nachrufsprache. Bei ihr wird der verstorbene Regisseur zu einem »Wirbelsturm«, der die verkrustete »Theaterlandschaft« der Nachkriegszeit einerseits »aufmischte«, andererseits »prägte«. Merke also, bist du ein Wirbelsturm, ist es deine Aufgabe, zu prägen und aufzumischen. Im Fall Zadeks soll der prägende Wirbelsturm ein halbes Jahrhundert gedauert haben. Nun hat der Sturm sich gelegt, die Ewigkeit beginnt mit einer schiefen Redewendung.
Die teilweise hymnischen Zadek-Nachrufe verraten, in welchem Ausmaß das Theater heute zu einer verlorenen Kunst geworden ist, in dem Sinn, wie man von einem Kaff am Rand der Welt sagt, es sei verloren. Mediensoziologisch gesehen bietet die beste Hauptstadtbühne nicht mehr als Kaff-Kunst, da sie an ein in-situ-Publikum adressiert bleibt. Dank Videos und Theaterkanalarbeit hilft man dem Elend mit externen Mitteln ein wenig ab, doch ohne echte Wirksamkeit. Die große Zeit der Kunst, die auf Anwesenheit angelegt war, ist vorüber, die Telefunktionen bestimmen, was wichtig und wirklich ist – das Beste geht so unweigerlich verloren. Das Prinzip Live ist rezessiv.
Deswegen kommt es dahin, daß ein Regisseur wie Zadek, den man vielleicht zu Recht einen von den größeren nennt, nur von seiner Ortsgemeinde aus eigener Anschauung gekannt wurde, allenfalls vom Publikum der Festivals. Der Rest sind Gerüchte. Einer
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