Zeilen und Tage
breiteren Öffentlichkeit wurde er nur durch den Verstärkungseffekt des Feuilletons nähergebracht – wobei das Wort »näher« nicht die Steigerung von nahe bedeutet, sondern die Abschwächung von fern. Auf feinen Kulturseiten schrieben wortgewandte Leute jahrzehntelang über Zadek-Aufführungen, die kein Leser mit eigenen Eindrücken vergleichen konnte. Solche Kritiken rücken das Theater noch weiter weg, indem sie demonstrieren, wieviel wichtiger es ist, über das Theater zu schreiben, als hineinzugehen.
Was Zadek anbelangt, könnte ein Biographieforscher ausrechnen, daß seine und meine Lebensspannen eine Überschneidungszeit von 40 Erwachsenenjahren aufweisen. Da hätte es schon mal möglich sein sollen, ein von ihm inszeniertes Stück zu sehen. Daß es dazu nie kam, geht auf den Kaff-Effekt zurück. Es wäre verfehlt, meine unfreiwillige Zadek-Verkennung als tragischen Fall von Aneinander-vorbei-Leben zu beklagen. Ganz untendenziös kann man daran ablesen, daß das Theater in der Tele-Medienzeit ein Nischenphänomen geworden ist.
Aus Beobachtungen dieser Art läßt sich nebenbei ein starker Begriff von Erfolg ableiten: Wirklich erfolgreich ist, was dich zwingt, es zu kennen, ohne daß du dich selber bewegen mußtest, um es kennenzulernen. Den höchsten Grad von Erfolg dürfte eine Celebrity erreicht haben, wenn es trotz größtem Widerwillen nicht gelungen ist, dem Bekanntwerden mit ihrer Fresse zu entgehen. In diese Kategorie fallen bestimmte Populisten, Partygirls, Provokationsjournalisten und andere Figuren, die zu kennen dich reut.
Auf Phoenix ein gut gemachtes Feature über den jungen Frank Sinatra, dessen Karriere – das scheint jetzt unbestreitbar – in entscheidenden Momenten von der amerikanischen Mafia gepuscht wurde. Von Sinatras persönlicher Wirkung gibt der Film glaubhaft Zeugnis: Noch so viele Jahre nach der Zeit der Begegnungen zieht eine Parade von Ehemaligen an der Kamera vorbei, fast alles geliftete Gespielinnen im Alter der zweiten oder dritten Falten, bereit, auf ein Stichwort hin von seinem Charme zu schwärmen, als ob er im Zimmer nebenan säße. Obschon es ein offenes Geheimnis war, daß seinerzeit der Boß der Bosse, Lucky Luciano, bei seinem Aufstieg die Finger im Spiel hatte, trat Sinatra später mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, er habe den Namen Lucianos noch nie gehört. Pech für ihn, daß Fotos bekannt wurden, die ihn mit Lucky, dem Vielfachmörder, auf einer Terrasse in Havanna zeigen, wo er den Arm um seine Schulter legt. In dieser Affaire versagte Frankyboys sonst gut entwickelter Medien-Instinkt kläglich. Jeder PR-Coach hätte ihm den Rat geben können, beim Leugnen nicht zu weit zu gehen. Eigentlich hätte man es längst wissen müssen: Wenn einer im geölten Echtheitston behauptet: »I did it my way«, heißt das für jeden, der Ohren hat, zu hören, ich machte es so, wie die Bosse es für richtig hielten.
1. August, Karlsruhe
Kollege Wolfgang Ullrich stellt eine These auf: Der White Cube ist ein Derivat des Kunstbuchs. Er entstand, als das Bedürfnis aufkam, einen betretbaren Bildband zu schaffen.
Let me see your beauty broken down. Der wirkliche Liebhaber sieht das Objekt seiner Zuneigung jenseits des Zwangs zur ständigen Restaurierung.
Elisabeth von Samsonow gelingt in ihrem Essay mit dem Titel: Die verrutschte Vulva. Entwurf einer neuen Organtheorie der Nachweis, daß das magische Loch in vor-pornographischer Zeit,was seine Wiedergabe im Bild angeht, eine Tendenz zur Verlagerung nach oben aufweist. Darin ist Mystifikation am Werk, aber auch ein wahres Moment. Man erkennt das daran, daß keine Penetration, was für ein Wort!, befriedigt, die nicht zugleich in einer höheren Gegend, sagen wir vom Seitenwundenbereich aufwärts, ansetzt.
Dagegen macht Hermann Schmitz in seinen leib-phänomenologischen Studien den Einwand geltend, das weibliche Genital weise im Ruhezustand per se keinen Lochcharakter auf. Den erhält es erst durch Einführung eines zweiten Körpers, dessen Anwesenheit an Ort und Stelle das vermeintliche Loch erzeugt, indem er es zugleich verschließt. Was Aufklaffen angeht, wie bei jedem Standardloch, liegt hier Fehlanzeige vor. Das Geheimnis des providentiellen Eingangs zur besseren Welt besteht darin, daß es im kritischen Moment ein Nicht-Loch ist. Der Phänomenologe demonstriert, was es heißt, genau hinzuschauen.
2. August, Salzburg-Aigen Hotel Doktorwirt
Professor Mönninger sendet mir seine Weimarer Rede vom Festakt des Bunds
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