Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
Geldtheorie ohne Vertrauensanalyse nicht zu haben ist. Zunächst definiert er Geld klassisch als »übertragbare Freiheit zu begrenzter Güterwahl«. Es fungiert als »bestimmte Unbestimmtheit von offenen Erwerbsmöglichkeiten«. Sein Wert setzt Konstanzvertrauen voraus: Ist dieses genug begründet, muß man es nicht wie in Zeiten der Hyperinflation sofort ausgeben, um noch so viel wie möglich dafür zu bekommen. Man kann somit Anlageentscheidungen vertagen. Wertstabiles Geld gibt Zeit zum Nachdenken: Das nennt man Sparen. Weil Geld das generelle Problemlösungsmittel ist, erspart es dem Besitzer spezielle Problemvorkehrungen. Es liefert ein Äquivalent von Gewißheit, »das gegenwärtig schon die Erfüllung noch unbestimmter künftiger Erwartungen sicherstellen kann«. »Wer Geld hat (d.h. Geld von vertrauenswürdiger Wertfestigkeit), braucht insoweit anderen nicht zu vertrauen.«
9. Juli, Karlsruhe
    Das Konzept »Herden-Immunität« liefert einen Zugang zur statistischen Soziologie. Unter diesem Gesichtspunkt gehört es mit Ausdrücken wie »Laktose-Intoleranz«, »Steuerehrlichkeit«, »Lesefähigkeit« usw. zusammen.
10. Juli, Karlsruhe
    Unter den älteren Herren gibt es eine klare Zweiteilung zwischen denen, die ihren Körperfettanteil in den letzten Jahren dramatisch erhöht haben, und denen, auf die das nicht zutrifft.
12. Juli, Karlsruhe
    Politologen sagen, in Deutschland bilden 20 Millionen wahlberechtigte Rentner eine »Erpressungsmehrheit«, gegen die keine Regierung angehen kann.
    Abends auf arte ein Film über einen Wüstenläufer namens Régis, der sich seit längerem in der Sahara bewegt. Immer von neuem setzt er sich der Sonne, dem Durst und der nächtlichen Einsamkeit aus, um das Gefühl des Daseins auf die Spitze zu treiben.
13. Juli, Karlsruhe
    Aus der beachtlichen Max-Weber-Biographie von Joachim Radkau ist zu erfahren, was für ein Schock es für den alten Karl Jaspers war, als ihm mittels einer gezielten Indiskretion die Liebesbriefe Webers an seine junge Geliebte Else Jaffé in die Hände gespielt wurden. Zeitlebens hatte Jaspers um das geistestitanische Bild Max Webers gerungen, dem er sich selbst in den Grenzen seiner Möglichkeiten zu assimilieren versuchte – ein Ringen, das ihn bis ins hohe Alter in Anspruch nahm. Nun las er die Briefe, und er sah seinen Helden in einem Venusberg verschwinden, schlimmer, er sah ihn geil und wimmernd an einem Venushügel stranden.
    Auf seine alten Tage mußte Jaspers einsehen, in welchem Maß er sich ein heroisches Phantom zurechtgelegt hatte. Er hatte sicheinen Mann konstruiert, der niemals zur Wollust der Unterwerfung unter eine Hetäre fähig gewesen wäre. Der Jaspers-Weber war dazu geschaffen, neben einer neutralen Frau wie Marianne durch die Welt zu schreiten. Undenkbar, ihn zu Füßen einer erotischen Artistin zu sehen, die ihre Kunst jenseits von Gut und Böse ausübte. Seltsamerweise war dem 80jährigen Jaspers nach dieser Enthüllung zumute, als ob der Fehler bei ihm läge – zeitlebens hatte er um Weber geworben und fühlte sich nun durch seinen Meister abgewiesen. Von seinem Bedürfnis nach Idealisierung konnte er dennoch nicht lassen. Bis zuletzt sollte sein Ich-Ideal die Züge des großen Sozialwissenschaftlers tragen, von dessen Neurosen sein Verehrer, der in jüngeren Jahren nicht ohne Grund von der Psychiatrie auf die Philosophie umgesattelt hatte, so wenig wie möglich Kenntnis nehmen wollte.
    Inzwischen gehören Weber wie Jaspers für uns einer sehr fernen Vergangenheit an. Einer wie der andere sind Bürger einer Welt, die von leinengebundenen und fadengehefteten Individuen bevölkert war. Mag sein, daß darum jeder Versuch, diese Autoren zu lesen, nach wenigen Seiten in eine milde Lähmung führt, vergleichbar dem Schwindel, der einen zuweilen in einem Museum alter Meister erfaßt und der den Besucher eilig zum Ausgang treibt.
14. Juli, Karlsruhe
    Finde in der Presse eine Notiz, wonach in Nordkorea Leute in Straflager verschickt werden, weil sie unwissentlich auf einer Zeitung mit einem Portrait des Diktators Kim Yong Il saßen.
    Den Nationalfeiertag nutzen Randalierer in den Pariser Vorstädten regelmäßig, um Autos in Brand zu stecken. Man zählte diesmal 317 ausgebrannte Fahrzeuge. Die Information verbirgt sich in der Mitteilung, dies bedeute gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg von 7 Prozent.
15. Juli, Birmingham
    Beim Gala-Diner anläßlich der Graduation-Zeremonien auf dem Warwick-Campus werde ich an Tisch 14 plaziert, wo ich

Weitere Kostenlose Bücher