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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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neben mir auf der einen Seite eine Historikerin mit mädchenhaftem idealistischem Charme und klugem Urteil kennenlerne, auf der anderen eine Dame, deren Name ähnlich wie Bitterwater klang, einer aparten, mager-sprühenden Person, die den Beweis führte, daß Charme auch ohne erotische Beimischung wirksam ist. Überhaupt scheint die Weiblichkeit im Saal, soweit das Auge reicht, auf strikte Neutralität verpflichtet, denn keine der anwesenden Frauen wagt es, attraktiv zu sein. Der Raum ist fest in der Hand von Damen mittleren Alters, die wie Besucherinnen vom Stern der Unbeschlafenen wirken. Leise bestimmend führen sie die Aufsicht über ihre männlichen Gefährten, die sich dem Black-Tie-Reglement und wohl auch anderen Dressuren umstandslos gefügt haben.
    Nigel Thrifts Dinner Speech konnte ich nur zerstreut zuhören. Mir war zumute, als bewegte sie sich auf den Spuren, in denen solche Reden laufen, seit der erste Rektor seine Institution über den grünen Klee loben mußte. Wer je selber Chef war, kennt die Verlegenheit, das eigene Unternehmen an die Spitze komplimentieren zu sollen. Wer es schon öfter getan hat, schaut bei dergleichen Anlässen anderswo auf die Uhr.
16. Juli, Warwick Campus Hotel
    Eine Kindheitserinnerung: Eines Tages, ich könnte fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, hörte ich irgendwo sagen, der Papst, es war damals Pius XII., leide an chronischem Schluckauf. Ich machte daraufhin den Vorschlag, er möge die Luft anhalten, so wie wir es als Kinder für dergleichen Fälle gelernt hatten. Meine Umgebung, bestehend aus Mutter und Großmutter, feierte dieseBemerkung als Zeichen verfrühter moralischer Sensibilität, vielleicht sogar als Vorboten einer therapeutischen Berufung.
    Nichts rührender als die große Zeremonie für die Graduanden dieses Jahrgangs: Zuerst der feierliche Einzug der in Festroben eingekleideten Fakultät in Butterworth Hall – die wirklich so heißt, wenngleich der Name wie von Jonathan Swift erfunden klingt. Die akademischen dignitaries werden von 1500 Personen stehend empfangen, während liturgische Chormusik mit Orgelspiel ertönt. Die Festversammlung nimmt Platz, es folgen das Défilé der Kandidaten und die Gratulationen des Kanzlers, der in seinem papageienbunten Prunkmantel die Mitte der Bühne innehat.
    Darauf beginnen die Rituale, die zur Verleihung des Ehrendoktorats gehören: die oration des Laudators und die Replik des Geehrten, die große Heiterkeit im Publikum auslöste. Ich zitierte die immer wirkungssichere Anekdote über Don Camillo, der gelegentlich eine Lobrede auf sich zu hören bekam und dann betete: Herr, vergib diesem Mann, daß er so übertrieb, und vergib mir, daß ich es gerne hörte.
    Die zweite Hälfte der Prozedur dreht sich um die Übergabe der Diplome – ein langes Défilé sympathischer junger Leute, darunter Mädchen, die auf riskanten hohen Absätzen die Rampe emporbalancieren. Zum Schluß das unvermeidliche God Save the Queen, ergriffen und distanzlos von der gesamten Versammlung stehend gesungen. Das alles geschah in feierlicher Stimmung, ja, der Festakt rief eine ansteckende Sursum-corda-Atmosphäre hervor und weckte eine so herzliche Gemeinwesen-Beseeltheit, wie der arme Teufel vom Festland es nicht mehr kannte. Man fühlt sich hier wie ein Abgesandter eines barbarischen Stamms aus den Wäldern jenseits des Limes, der erstmals die weißen Tempel Roms sieht: sofort entschlossen, der überlegenen Kultur beizutreten.
    Der Gedanke drängt sich auf, daß die deutsche Universität bei ihrer Entritualisierung zu weit gegangen ist. Wir haben nach beiden Seiten verloren, als wir die akademischen Rituale abschafften, auf der einen Seite deren erbauliche Wirkungen, auf der anderen eine Quelle für Parodien.
17. Juli, Karlsruhe
    Chamfort: »Wer mit vierzig nicht Misanthrop ist, hat die Menschen nie geliebt.«
    Am Abend im Medientheater der ZKM eine Lesung aus Du mußt dein Leben ändern .
    Im Anschluß daran gelingt Marc Jongen und seinen Mitstreitern aus den Niederlanden, Frankreich und Deutschland ein Überraschungscoup: Mir wird ein Buch unter dem Titel Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk überreicht, auf dessen Entstehung ich nicht den geringsten Hinweis mitbekommen hatte.
    Zur selben Zeit veranstaltete die Studentenschaft unserer Schule die Abschiedsparty für Boris Groys, der leider einen Ruf an die New York University angenommen hat.
18. Juli, Karlsruhe
    Die letzte kollegiale Amtshandlung mit Boris ist ein

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