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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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akzeptabel, vorausgesetzt, man ergänzt sie durch die komplementäre These, wonach der Mensch zugleich eine als Tier gescheiterte Kreatur ist. Ihm ist das Tiersein und Tierbleiben insofern mißlungen, als er aus der einschließenden Umwelt in die Weltoffenheit hinausgestürzt ist. Ich hüte mich davor, in diesem naturwissenschaftlich ausgerichteten Kreis Max Scheler zu zitieren, der den Menschen den Catilina unter den Tieren genannt hatte – den geborenen Verschwörer gegen die Verfassung der Natur.
26. Juni, Mailand
    Aus Offenburg ruft abends Peter Weibel an, um Glückwünsche zum 62. Geburtstag zu übermitteln. Er gibt den Hörer weiter an eine dort versammelte Gesellschaft. Fast ungläubig höre ich die Grüße von Ulla Berkéwicz, Raimund Fellinger, Hubert Burda, Prinz Max von Baden und Peter Handke.
    Das Abendessen im Nobellokal Trussardi della Scala neben der Oper litt sehr darunter, daß das Restaurant der lokalen Kochkunst der Rücken gekehrt hat und sich an einer imaginären haute cuisine orientiert, von der man die Prätention spürt, aber den Erfolg nicht sieht. So saß man da, schaute aus dem Fenster auf den schönen Platz vor der Oper und versuchte doch zu glauben, es sei ein Fest.
    Aristoteles stellt fest, der großgesinnte Mensch (megalopsychos) ist nicht anthropológos – kein Schwätzer von allzu menschlichen Affairen. ( Nikomachische Ethik 1125a5) Im Griechischen gibt es überdies ein Verbum anthropologéo, ich vermenschliche, ich übersetze (sc. göttliche Dinge) in humane Ausdrücke. Die moderne Anthropologie – ist sie vielleicht eine gossip-Disziplin im philosophischen Register?
27. Juni, Mailand
    Ein junger Intellektueller zitiert beim Interview in der Lobby des Hotels einen Satz, den er Henri Michaux zuschreibt: »Au commencement était la répétition.«
    Wie es kommt, daß ich Gleichaltrige zumeist für Angehörige einer älteren Generation halte?
    Robert Kagan, neben Kristol und Kaplan einer der primitivsten Einpeitscher des bellizistischen Realismus in den USA, reiht sich in die Serie der Verfasser von Return-of-History-Büchern ein, wobei er aus seiner Verachtung für das alte Europa keinen Hehl macht: »China is not Luxembourg.«
28. Juni, Mailand
    Beim Frühstück huscht Alain de Botton vorbei, der Kolibri unter den Bücherschreibern unserer Tage.
    Bei der gestrigen Soirée in einem Mailänder Theater, moderiert von der allgegenwärtigen Elisabetta Sgarbi, trug der chilenische Regisseur Raúl Ruiz einen prätentiösen Essay über seine Filmpoetik vor. Es folgte ein problematisches Selbstportrait von Hanna Schygulla unter dem konventionellen Titel »Moi et mon double«. Da die literarischen Lesungen alle in der Zonedes Halbkönnens festgefahren waren, die Rezitation des ernsten J.M. Coetzee eingeschlossen, die immerhin dank der eigenwilligen, spirituell sympathischen Romanfigur Elisabeth Costello von der inhaltlichen Seite her anregend war, blieb es Meredith Monk überlassen, den Abend zu retten. Sie tat das mühelos, indem sie das alte Fach Gesang in einen unerhörten Zustand emporhob.
30. Juni, Karlsruhe
    Im Fernen Osten sagt man, der wahre Krieger sitzt reglos am Fluß und schaut aufs Wasser, bis die Leiche seines Feindes vorbeischwimmt. Obwohl ich keinen Finger rühre, habe ich manche Kadaver im Fluß treiben sehen. Für einen Krieger habe ich mich nie gehalten, so sehr mir das Sitzen am Ufer liegt. Manche Körper schwammen mehrmals vorbei, als ob sie flußabwärts in eine Rezyclinganlage geraten wären. Ich habe mich immer davor gehütet, für Reste von Feinden zu halten, was tot vorbeischwimmt.
3. Juli, Stuttgart
    Besuch bei Werner Sobek in seinem legendären Haus R 128, mit dem eine neue Serie von Architektur begonnen hat.
4. Juli, München
    Warum funktioniert überhaupt etwas und nicht nichts? Die Seinsfrage, als Funktionsfrage gestellt, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Phänomen Erfolg, das unendlich viel älter ist als jede menschliche Bewertung. Alles, was ist, kann auch sein, und sofern es durch Dasein Seinkönnen demonstriert, muß es eine alte Geschichte erfolgreicher Funktionen im Rücken haben. ZumFunktionieren gehört die Möglichkeit, daß ein System an der Umwelt vorbei funktioniert – und dies über lange Zeit.
    Luhmann: »Vertrauen reflektiert Kontingenz, Hoffnung eliminiert Kontingenz.«
    Luhmann zitiert Tirpitz mit der Bemerkung, das günstigste Verhältnis zum Monarchen sei das, in »leichter Ungnade« zu stehen.
    Sehr suggestiv erläutert Luhmann, daß

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