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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Deutscher Architekten zum Nachlesen. Sie kulminiert in dem wahr-problematischen Satz: »Wir müssen uns Sloterdijk als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Sisyphos amüsiert sich über den Neuzugang: Willkommen in der Unterwelt, seit Camus hat unsereins keine ruhige Minute mehr. »… und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.«
    Während die Damen die Nachmittagsvorstellung von Tschechows Die Möwe besuchen, bleibt Zeit, sich im Gartenrestaurant niederzulassen und mit der Lektüre von Peter Gays Großessay Modernism. The Lure of Heresy zu beginnen, eines Buchs, das zumindest in thematischer Sicht meine Ambitionen zu einem resümierenden Versuch über das 20. Jahrhundert berührt.
    Was Gay modernism nennt, geht aus der Deregulierung der Vertikalspannungen in der Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts hervor. Der primäre Merkmal des Modernismus – vom Autor zu Recht als Zug zum Extremismus bestimmt – ist unverkennbar ein Zerfallsprodukt. Wenn die Vertikale sich auflöst, beginnt eine Zeit der wilden Hyperbeln. Radikalismus – Suprematismus – Formalismus – Terrorismus, in allen diesen Tendenzen und Attitüden drückt sich ein diffuser Wille zum Vorstoß ins Äußerste aus, philosophisch als Anspruch auf Versenkung der zureichenden Gründe im Abgrund, logisch als hohe funktionale Abstraktion, technisch als Wille zur Reduktion der zusammengesetzten Dinge auf letzte Elemente, politisch als Entschlossenheit zur Verwendung äußerster Mittel bei der Errichtung optimaler Gesellschaften.
    Was Hobsbawm »the Age of Extremes« genannt hat, hat es also wirklich gegeben. Doch nicht so schnell: Der populär gewordene Ausdruck hat im Mund seines Popularisators eine suspekt apologetische Klangfarbe angenommen. Hobsbawm versteckte clever seine politischen Fehlurteile in den Kulissen des »Extremen« und wollte es dabei belassen. Alterstrotzig hält er seinen juvenilen Neigungen zum Kommunismus die »Treue«, um das schöne Wort für eine listige Verdrehung zuzulassen. Wie unzählige andere Langzeitlügner erinnert er sich lieber an die schwungvollen Gefühle, mit denen man als junger Mensch der kommunistischen Sache anhing, als an die grauenvollen Tatsachen, die aus den idealischen Optionen folgten.
    Immerhin, Hobsbawm war ein Erzähler bzw. ein Präsentator historischen Materials von Rang, wenn er auch intellektuell kaum den Durchschnitt erreicht. Er verfügt nicht über die begrifflichen Mittel, um sich den Phänomenen anders als statistisch, anekdotisch und summarisch zu nähern. Andererseits kommt auch Peter Gay mit dem Problem des Extremen nicht wirklich zurecht, doch besitzt er den Vorteil, durch seinen Ansatz bei der ästhetischen Sphäre der Sache selbst viel näher zu sein. Er läßt die Saga der Moderne um 1850 in Frankreich beginnen und um1960 in den USA enden, wobei er der abgenutzten Suggestion Kredit gibt, wonach alle moderne Kunst nach 1945 einen amerikanischen Paß braucht.
    Fruchtbarere Anregungen findet man bei den Anarchisten des 19. Jahrhunderts. Die hatten eine bemerkenswerte Philosophie der Zerstörung im Marschgepäck, als sie die Zerlegung des Bestehenden bis auf die molekulare Ebene predigten. Von hier aus ist es nur ein Schritt zu der These, Extremismus sei die Anwendung des Elementarismus auf die politische Sphäre. Elementarismus gründet in der Überzeugung, daß man die kleinsten Teile herausgearbeitet haben muß, wenn man die Neukonstruktion der Maschine im Sinn hat. Insofern ist der Extremismus mit dem analytischen Mythos eng verbunden – auch die soziale Physik hat ihre Vorstellungen von den Elementarteilchen. Bei den weniger dummen Anarchisten gab es Ansätze zu einer Theorie der politischen Pulverisierung. Dank Rekombination der Moleküle sollte es möglich sein, die von Gott ursprünglich gemeinte Welt wiederherzustellen.
    Noch wichtigere Hinweise finden sich bei Nietzsche, der den Willen zum Äußersten erstmals in den Rahmen einer ästhetischen Theorie versetzte. Damit war man beim Kern der Sache angekommen.
    Extremismus entsteht aus der Explizitmachung der Kategorie Überraschung. Er bildet die Sturmspitze eines von Avantgarden getragenen Feldzugs gegen alles, was Gewohnheit, Wiederholung, Mittelmaß und stationäres Dasein ist. Am Anfang sind Innovationskult und Extremismus ein und dasselbe. Diaghilevs Satz: Überraschen Sie mich!, an einen seiner Choreographen gerichtet, fängt die surprise-Mentalität der Moderne am besten ein. Klänge der Ausdruck nicht an den Haaren

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