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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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gestern in der Zeitung stand, in den USA seien 40 Prozent aller Hunde zu dick. Jetzt sollte man bellen, bis jemand von der Rezeption heraufkommt und ruft: Haustiere sind auf den Zimmern nicht erlaubt.
    Alles, was zur hohen Moderne gehörte, erweist sich im Rückblick als Ausgangspunkt für spätere entropische Stadien. Der esoterische Modernismus − eine Etappe auf dem Weg zur alternativen Massenkultur; der Elitismus − ein Vorspiel zur Marktgesellschaft; die l’art pour l’art-Bewegung − ein Hebeleffekt zur späteren Kultur der billigen Plätze; die ästhetische Antidemokratie, ein Umweg in die Popkultur.
    Peter Gay notiert ungebrochen bieder, Baudelaire habe immer vollkommene sprachliche Korrelate gefunden für alles, was er »ausdrücken wollte«, ja, mehr noch, was er »ausdrücken mußte«. »No other confessor, not even J. J. Rousseau, had ever been able to show himself so naked as this revolutionary poet. This is the way modernism begins, not with a whimper but a thrill.« (p. 41) Diesen Ton kann nur jemand treffen, der sich aufdie Mission eingelassen hat, Kulturgeschichte auf dem Niveau der Wochenendbeilagen zu präsentieren, trivial genug, um bei Barnes & Noble auf dem Tisch neben der Kasse zu landen. Sonst der soignierte New Yorker Intellektuelle par excellence, ist sogar Gay nicht geschützt gegen die Versuchung, vom noch erträglichen Kitsch zum nicht mehr hinnehmbaren Trash überzugehen.
    Man tut, was man kann, hieß es früher. Heute glauben alle, sie müßten tun, was sie nicht können.
    Notiz zu einem Seminar über die Inszenierung von Mozarts da-Ponte-Opern: Wenn Despina ihren Damen den Rat erteilt: »die Feige essen und den Apfel nicht verschmähen«, spricht sie die Sprache der Domestiken, die ihre Stunde kommen sehen. Die Dienerethik – von der da Ponte, der Hofpoet aus dem Ghetto, weiß Gott etwas verstand – wollte seit jeher das Sowohl-Als-Auch. Nachdem im Realen die Domestikenwelt gesiegt hat, fällt es den zeitgenössischen Regisseuren schwer, die von Mozart vollbrachte Arbeit bei der Erhöhung der Dienerrollen zu würdigen. Sie merken nicht mehr, wie großzügig Mozarts melodischer Universalismus Figuren vom Schlage Leporellos, Despinas, Susannas, um von Figaro nicht zu reden, an der res publica des Klangs teilhaben läßt. Bei ihm gibt es keine tonlose Existenz mehr. In seiner Welt haben alle Gestalten die vokale Gleichberechtigung erlangt.
    Was die heutigen Regisseure nicht kapieren, ist, daß man jetzt, nach dem Sieg der Diener im Realen, auf der Bühne den vornehmen Figuren assistieren muß. Der brav progressive Theatermann von heute inszeniert aber immer noch robust nach unten – was übrigens auch die Masche des Vitalisten Zadek gewesen zu sein scheint, den freilich, das sei zu seiner Ehre gesagt, die Folgen seiner Arbeit anwiderten, sobald er sie bei imitierenden Kollegen wiedersah. So gut wie alle zeitgenössischen Theatermacher stellen sich an, als ob die Revolution vor uns läge und mit den Mitteln der Bühne voranzutreiben sei. Die Wahrheit ist, Leporello,Despina und Co. führen Regie. Sie demonstrieren immer wieder, was seit 200 Jahren keiner Demonstration mehr bedarf: daß es für das Zimmermädchen keine große Dame gibt, für den Kammerdiener keinen großen Herrn. Neu scheint nur, daß es für den Regisseur keinen großen Dichter gibt – aber auch das ist nicht neu. Vor 100 Jahren hat sich Max Scheler über die Verdrängung des Dichtertheaters durch das Regisseurtheater beschwert.
6. August, Wien
    Leben und über seine Verhältnisse leben sind Synonyme.
    Michelet statuiert die alte Feindschaft zwischen dem Menschen und dem Meer. Sogar die Hunde fürchten die Fluten. Zu Tausenden bellen sie in den langen Nächten von Kamtschatka gegen die heulende Welle an.
    Fritz B. Simon (Hg.): Die Familie des Familienunternehmens. Ein System zwischen Gefühl und Geschäft , 2005.
    Ein Held unserer Zeit: der sympathische Affenforscher, der alles schon bei den tierischen Vorfahren angelegt sieht. Er erkennt seine Mission darin, gegen die Arroganz von homo sapiens aufzutreten, der sich einbildet, er habe Neues in die Welt gesetzt. Der Gradualist setzt auf Übergänge. Vom Unterschied zwischen dem Faustkeil und der h-Moll-Messe will er nichts hören. Und das breite Publikum gibt ihm recht, weil es in seiner Schwankung zwischen dem Affen und dem Genie lieber die Tierseite wählt.
    Ein witziges Detail aus Franz Werfels Der Stern der Ungeborenen . In der Zukunftswelt verlieren die Damen

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