Zeilen und Tage
herbeigezogen, müßte man sagen: Der Extremismus ist ein Surprisismus. Aus ihm geht der Drang zur Suche nach Methoden hervor, die Überraschung zu systematisieren. Doch weil ihm jedes grobe Überraschungsmittel recht ist, trägt er die Anfänge seines Scheiterns in sich. Die Überraschung, die methodisch erzwingbar werden will, zerstörtsich selbst. Nichts verbraucht sich schneller als das Streben nach Überraschung, das zum Verfahren ausgewalzt wurde. »Im Gefühl« hatte man das seit langem, doch die prinzipielle Seite der Vorgänge hat man nie comme il faudrait durchleuchtet. Warum ekelt man sich so sehr vor dem routinierten Griff zu den äußersten Mitteln? Weil man es leid ist, mit bösen Überraschungen traktiert zu werden, die nur noch zum Gähnen sind. Tatsächlich, zu den ödesten Relikten des 20. Jahrhunderts, das nicht vergehen will, gehört der serielle Extremismus: Das Bombenattentat und die Klassikerverhunzung. Beide bilden die Nullstufen des dumpf gewordenen Überraschungskults. Ezra Pounds klassisches Diktum: make it new! hat den Test der Geschichte nicht bestanden.
Es gibt nur eine wahrhaft postmoderne Frage, die lautet: Was darf ich lehren? Die moderne Frage: Wogegen soll ich mich auflehnen? war damit verglichen juvenil.
Gelegentlich den Ruinenwert von Aphorismen bedenken.
Das ist einer der Momente, an denen ich schon im voraus anfange, die Gespräche mit Boris Groys zu vermissen. Er war der einzige, mit dem man über die Kunst des 20. Jahrhunderts reden konnte wie in einem Vorbereitungsausschuß zum Jüngsten Gericht. Weil in einem solchen Gremium die Position des diskursiven Teufels nicht fehlen darf, hatte Boris sich die These zurechtgelegt, das Entscheidende in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts sei die Emanzipation der Kunst vom Geschmack gewesen. Der wahre Extremismus ist der des Bekenntnisses zur Geschmacklosigkeit. Geschmacklosigkeit ist Amoralismus im Gebiet der Wahrnehmung.
In diesem Punkt geht Groys über Adorno hinaus, der letztlich sentimental blieb und zum Rückfall in den Geschmack neigte. Der Grund dafür liegt in den Hemmungen, die von der bürgerlichen Bildung errichtet werden: Adorno war radikal genug, um die freie Dissonanz zu verteidigen. Aber da er als gebildeter Mensch Hemmungen kannte, war er nicht frei genug für den Schritt von der dissonanten Radikalität zur absoluten Geschmacklosigkeit.
Das haben indirekt die Scholastiker des Mittelalters vorhergesehen. Auch Gott, so dozierten sie, dürfe beim Jüngsten Gericht nicht alles verzeihen, weil die übergroße Gnade nur die andere Seite der Geschmacklosigkeit wäre. Indem sie an den ewigen Höllenstrafen festhielten, verteidigten sie Gottes guten Geschmack.
Wie sehr Hotels Milieus sichtbar machen können, ist eine altbekannte Beobachtung. In unserem hier, Irene hatte es empfohlen, geht relativ hoch individualisiertes, nicht übertrieben verfeinertes Mittelschichtfestivalpublikum ein und aus. Es tauchen vereinzelt kunstgesinnte Damen um die 50 auf, deren Resignation mit Relikten von Wahnbereitschaft durchsetzt ist. Je nach Stimmung könnte man über sie Vulgäres oder Sensibles sagen. Ein Theaterautor zwischen zwei größeren Projekten würde hier die Figuren für einen bitteren Einakter finden.
Ein dynamischer Volvo-Fahrer, der schon am späteren Nachmittag mit der Konzertfliege am steifweißen Kragen herumläuft, stellt sein Fahrzeug weniger als einen halben Meter vor dem Hotelportal ab, so daß niemand mehr aus dem Haus kommt, ohne sich an der Stoßstange vorbeizupressen. Wiener Nummernschild, schwungvolles Großkotzwesen, basisösterreichisch überzeugt, ein Mann solchen Kalibers dürfe nicht fehlen, wenn der Taktstock sich hebt.
Dem Modernismus ist somit von Anfang an das Problem der zur Routine erstarrten Überraschung inhärent. Politisch wird das mit dem Kennwort »permanente Revolution« umschrieben. In der ästhetischen Sphäre manifestiert es sich als das Projekt der permanenten Häresie.
Peter Gay ist als Autor von Untertiteln kaum zu übertreffen – denn mit dem Hinweis auf den Häresie-Schwindel rührt er an den Kern der Sache. Vor diesem Hintergrund sieht man klarer: Trotzki, zum Beispiel, war ein Kompilator, der Motive von Baudelaire, Mallarmé, Nietzsche u.a. ins Politische übertrug. Er wurde zum Ideengeber des linksfaschistischen Lagers außerhalb der Sowjetunion, nachdem er dort seine Arbeit als leninistischer Warlord erledigt hatte, indem er den permaneten Krieg zum Ideal erhob. Auf ihn beriefen
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