Zeit deines Lebens
durchschaut hatte, wie Gabe so schnell von einem Ort zum andern gelangte.
Während der Aufzug weiter nach unten fuhr, drückte Lou auf den Knopf für das Erdgeschoss, aber der weigerte sich aufzuleuchten. Er drückte noch ein paarmal, heftiger und heftiger, und beobachtete besorgt, wie das Licht von einer Stockwerkzahl zur nächsten wechselte. Zwölf, elf, zehn … Der Aufzug nahm immer mehr Tempo auf. Neun, acht, sieben … Von einem Abbremsen war nichts zu merken. Rasselnd fuhr die Kabine an den Seilen hinunter, und mit wachsender Angst und Erregung begann Lou auf alle Knöpfe zu drücken, die er finden konnte, einschließlich des Alarms. Ohne den geringsten Erfolg. Der Aufzug rauschte weiter durch den Schacht in die Tiefe, anscheinend nach seinem eigenen Plan.
Als ihn nur noch wenige Stockwerke vom Erdgeschoss trennten, trat Lou von der Tür zurück und kauerte sich vorsichtshalber in eine Ecke der Aufzugskabine. Dort ging er in die Hocke, steckte den Kopf zwischen die Knie und machte sich auf den Aufprall gefasst.
Kurz darauf wurde der Aufzug langsamer und blieb dann unvermittelt stehen. Die Kabine hüpfte ein paarmal am Ende des Seils und kam zitternd zur Ruhe. Als Lou seine fest zugekniffenen Augen öffnete, sah er, dass er im Keller gelandet war. Als hätte der Aufzug die ganze Zeit normal funktioniert, ertönte ein fröhliches »Pling«, und die Türen öffneten sich. Lou schauderte, denn der Keller vermittelte keineswegs die freundliche Vertrautheit des vierzehnten Stocks, an die er gewöhnt war. Nein, hier war es kalt und dunkel, kein Teppich, sondern staubiger, harter Betonboden. Er verspürte nicht die geringste Lust, hier auszusteigen, {181 } und drückte hektisch noch einmal auf den Erdgeschossknopf, um so schnell wie möglich zu Marmorboden und Teppichen, zu cremefarbenen Verzierungen und Chrom zurückzukehren. Aber der Knopf weigerte sich noch immer aufzuleuchten, der Aufzug reagierte nicht, und die Türen blieben offen. So blieb Lou schließlich nichts anderes übrig, als auszusteigen und die Feuertreppe zu suchen, die zum Erdgeschoss emporführte. Sobald er jedoch die Kabine verlassen hatte und mit beiden Füßen auf dem Betonboden stand, schlossen sich die Türen hinter ihm, und der Aufzug fuhr nach oben.
Der Keller war nur schwach beleuchtet. Am Ende des Korridors flackerte eine Neonröhre – an und aus, an und aus –, was seinen Kopfschmerzen ganz und gar nicht zusagte und ihn ein paarmal ins Stolpern brachte. Um ihn herum summten diverse Maschinen, an der unverkleideten Decke lagen die ganzen elektrischen Leitungen offen. Der Boden war kalt und hart unter seinen Lederschuhen, Wollmäuse stiegen auf und legten sich auf seine glänzendpolierten Schuhspitzen. Doch als er so den schmalen Gang entlangwanderte und den Ausgang suchte, hörte er auf einmal Musik. Allem Anschein nach kam sie aus einer Tür am Ende eines weiteren Ganges, der nach rechts abbog – »Driving Home for Christmas« von Chris Rea. In dem Gang auf der anderen Seite sah er über einer Metalltür das grüne Schild des Notausgangs leuchten: ein Mann, der aus einer Tür eilte. Unschlüssig schaute er zurück zu dem Raum am Ende der Halle, wo Musik und Licht durch den Ritz unter der Tür drangen. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Noch hatte er genug Zeit, zur Apotheke zu gehen und es rechtzeitig zur Videokonferenz zurück ins Büro zu schaffen – vorausgesetzt, der Aufzug funktionierte wieder. Schließlich {182 } gewann jedoch seine Neugier die Oberhand, er eilte die Halle hinunter und klopfte an die Tür. Weil die Musik so laut war, dass er sein eigenes Klopfen kaum hörte, öffnete er die Tür langsam und streckte den Kopf hinein.
Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm die Sprache.
Hinter der Tür befand sich ein kleiner Lagerraum mit hohen Metallregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten und mit allem erdenklichen Kleinkram gefüllt waren, von Glühbirnen bis Klopapier. Dazwischen waren zwei Gänge, beide nicht länger als drei Meter. Insbesondere der zweite zog Lous Aufmerksamkeit auf sich, denn durch die Regale hindurch drang Licht, und als Lou näher herantrat, sah er, dass auf dem Boden ein ihm wohlbekannter Schlafsack ausgebreitet war, von der Wand bis zu der Stelle, wo das Regal anfing. Auf dem Schlafsack lag Gabe und las in einem Buch, so vertieft, dass er nicht einmal aufschaute, als Lou hereinkam. Auf dem unteren Regalbord stand eine Reihe brennender Kerzen, Duftkerzen, wie sie auch in den Toiletten der
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