Zeit deines Lebens
gestritten hatten – Mr O'Donnell wollte einen richtigen Tannenbaum, Mrs O'Donnell war dagegen, weil sie keine Lust hatte, ständig die Nadeln wegsaugen zu müssen. Grüne, rote und blaue Lichter leuchteten rhythmisch an dem furchtbar kitschigen Baum auf und verglommen wieder, unentwegt, und obwohl der Baum so hässlich war, wirkte er sehr entspannend – als würde ein Brustkorb sich beim Atmen gemächlich heben und senken. Es war der erste gemeinsame Augenblick, den Ruth und Lou an diesem Tag hatten, überhaupt die einzige ungestörte Zeit zu zweit, denn Lou musste auf der Couch übernachten, während Ruth abends züchtig in ihrem Zimmer verschwand. Er hatte nicht geplant, ihr seine Liebe zu gestehen, ja, eigentlich hatte er vorgehabt, diese Worte überhaupt nie auszusprechen, aber sie waren einfach ungefragt über seine Lippen gekommen. Eine Weile hatte er mit ihnen gekämpft, sie im Mund hin und her bewegt, sie nach vorn befördert und wieder zurückgeholt, weil er nicht den Mut hatte, sie herauszulassen. Aber dann waren sie plötzlich draußen, und augenblicklich veränderte sich seine Welt. Zwanzig Jahre später, hier im Schlafzimmer seiner Tochter, fühlte es sich an, als wäre derselbe Moment zurückgekehrt, mit dem gleichen Ausdruck der Freude und Überraschung auf Ruths Gesicht.
»O Lou«, sagte sie leise, schloss die Augen und gab sich ganz dem Moment hin. Doch dann machte sie abrupt die Augen wieder auf, und eine Besorgnis flackerte in ihnen, eine Unruhe, die Lou eine Höllenangst vor dem machte, was sie sagen würde. Was wusste sie? Sein Verhalten in der Vergangenheit stürzte sich auf ihn wie ein gespenstischer Piranhaschwarm, gemein und hinterlistig. Er dachte an diesen anderen Teil seiner selbst, der irgendwo betrunken da draußen umherstreifte und womöglich seine neuerwachte Beziehung zu seiner Frau zerstörte, die Reparaturen rückgängig machte, die sie beide so viel Anstrengung gekostet hatten. Er hatte eine Vision der beiden Lous: Einer baute eine Backsteinmauer, der andere schlug mit einem Vorschlaghammer alles sofort wieder kurz und klein. Genau das hatte Lou die ganze Zeit getan. Auf der einen Seite hatte er seine Familie aufgebaut, während er auf der anderen mit seinem Verhalten alles kaputtzumachen drohte.
Mit einem Ruck löste Ruth sich von ihm und rannte ins Bad. Lou hörte, wie sie die Klobrille hochklappte und sich ein weiteres Mal übergab. Da sie es hasste, wenn jemand in solchen Augenblicken bei ihr war, schaffte sie es sogar noch – wie immer eine Meisterin in Multitasking – mit dem ausgestreckten Bein die Badezimmertür hinter sich zuzuschlagen.
Lou seufzte, ließ sich auf den Boden sinken und landete mitten in der Teddykolonie, wo zum x-ten Mal das Telefon zu vibrieren begann.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte er mit dumpfer Stimme und erwartete, seine eigene betrunkene Stimme zu hören. Aber er irrte sich.
20 Der Truthahnjunge IV
»Schwachsinn«, sagte der Truthahnjunge, als Raphie eine Pause machte, um Luft zu holen. Statt etwas zu antworten, wartete Raphie, ob der Knabe ihm gegenüber vielleicht noch etwas Konstruktiveres in petto hatte.
»Totaler Schwachsinn«, wiederholte der jedoch nur noch einmal.
»Okay, das reicht«, sagte Raphie, stand auf und packte Becher, Papptasse und Bonbonpapiere zusammen. Während er seine Geschichte erzählte, hatte er einiges an Süßigkeiten vertilgt. »Dann lass ich dich jetzt in Frieden auf deine Mutter warten.«
»Nein, bleiben Sie hier!«, rief der Junge.
Aber Raphie machte einen Schritt zur Tür.
»Sie können die Geschichte doch nicht einfach an der Stelle abbrechen«, zeterte der Truthahnwerfer weiter. »Sie können mich doch nicht so hängenlassen!«
»Na ja, so geht es einem eben, wenn man etwas nicht zu würdigen weiß«, entgegnete Raphie achselzuckend. »Und wenn man mit einem Truthahn Fensterscheiben einschmeißt.« Damit verließ er den Verhörraum.
Jessica stand in der winzigen Küche der Station und trank die nächste Tasse Kaffee. Ihre Augen waren rot, entzündet, mit dunklen Ringen.
»Schon Kaffeepause?« Raphie tat, als würde er ihren lädierten Zustand nicht bemerken.
Sie blies auf den Kaffee, nippte und sagte, ohne beim Sprechen die Tasse vom Mund zu nehmen: »Du warst eine halbe Ewigkeit da drin.« Dabei studierte sie aufmerksam das Schwarze Brett, das direkt vor ihr hing.
»Ist dein Gesicht okay?«
Sie nickte einmal kurz – wahrscheinlich der ausführlichste Kommentar, den sie zu den
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