Zeit deines Lebens
Schnitten und Kratzern, die ihr Gesicht überzogen, abzugeben bereit war. Abrupt wechselte sie das Thema. »Wie weit bist du mit der Geschichte gekommen?«
»Bis zu Lou Sufferns erster Verdoppelung.«
»Was hat der Junge dazu gesagt?«
»Ich glaube, ›Schwachsinn‹ war der Ausdruck seiner Wahl, dicht gefolgt von ›totaler Schwachsinn‹.«
Jessica lächelte schwach, blies erneut auf ihren Kaffee und nippte wieder. »Du bist weiter gekommen, als ich dachte. Du solltest ihm die Videoaufnahmen von der Nacht zeigen.«
»Haben wir die Tapes von der Videoüberwachung in dem Pub denn schon?«, fragte Raphie und drückte noch einmal auf den Schalter am Wasserkessel. »Wer hat da an Weihnachten gearbeitet? Der Weihnachtsmann?«
»Nein, die Tapes sind noch nicht da, aber die von Patterson Developments. Da wissen sie anscheinend nicht, wie man einen Tag Urlaub nimmt.« Jessica verdrehte die Augen. »An Weihnachten, also ehrlich. Jedenfalls, auf der Aufnahme von der Konferenz sieht man einen Mann aus seinem Büro verschwinden, der genau aussieht wie Lou.«
»Aber bei der Videokonferenz könnte es doch dieser Gabe-Kerl sein. Er und Lou sehen sich total ähnlich.«
»Könnte sein, ja.«
»Wo bleibt der überhaupt? Er sollte doch schon vor einer Stunde hier sein.«
Jessica zuckte die Achseln.
»Na ja, er sollte zusehen, dass er seinen Hintern hier demnächst reinschafft und seinen Führerschein mitbringt, wie ich es ihm gesagt habe«, grollte Raphie. »Sonst werde ich … «
»Sonst wirst du was?«
»Sonst werde ich ihn persönlich festnehmen.«
Langsam senkte Jessica die Kaffeetasse, und ihre tiefen, geheimnisvollen Augen bohrten sich in seine. »Mit welcher Begründung willst du ihn denn bitte festnehmen, Raphie?«
Aber Raphie ignorierte sie, goss sich noch einen Kaffee ein und schaufelte zwei Löffel Zucker hinein, wogegen Jessica – wahrscheinlich, weil sie seine grimmige Entschlossenheit spürte – nicht protestierte. Dann füllte er den Pappbecher mit Wasser und trottete wieder den Korridor hinunter.
»Wo gehst du hin?«, rief sie ihm nach.
»Die Geschichte fertig erzählen«, brummte er.
Der Rest der Geschichte
21 Der Mann der Stunde
»Aufwachen, aufwachen«, durchdrang eine Singsangstimme Lous betrunkene Träume, in denen alles zum hundertsten Mal wiederholt wurde: Er wischte Lucy die Stirn ab, steckte Pud den Schnuller wieder in den Mund, hielt Lucys Haare zurück, während sie sich über die Toilette beugte, nahm seine Frau in den Arm, ihr Körper entspannte sich, dann ging es wieder zurück zu Lucys Stirn, Pud spuckte den Schnuller aus, und Ruth lächelte, als er ihr sagte, dass er sie liebte.
Der Duft von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase. Endlich schlug er die Augen auf – und fuhr so erschrocken zurück, dass er mit seinem sowieso schon schmerzenden Kopf gegen die harte Betonwand schlug.
Wo war er überhaupt? Das, was seine frisch geöffneten Augen morgens begrüßte, war manchmal mehr und manchmal weniger angenehm. Weit häufiger als ein Kaffeebecher, wie er ihm in diesem Augenblick unter die Nase gehalten wurde, weckte ihn der Klang einer Klospülung, und gelegentlich – wenn auch sehr selten – war das Warten darauf, dass die geheimnisvolle Klospülerin aus dem Badezimmer zurückkehrte und ihr Gesicht im Schlafzimmer zeigte, so nervtötend gewesen, dass Lou in der Zwischenzeit vorsichtshalber aus dem Bett und sogar aus dem Gebäude {232 } verschwunden war, ehe die mysteriöse Dame wieder auftauchte.
An dem Morgen, nachdem Lou Suffern zum ersten Mal verdoppelt worden war, wurde er allerdings mit einem vollkommen neuen Szenario konfrontiert: Vor ihm stand ein Mann in seinem Alter und streckte ihm mit zufriedenem Gesicht einen Becher Kaffee entgegen. So etwas war noch nie da gewesen. Zum Glück war der andere Mann Gabe, und Lou stellte erleichtert fest, dass sie beide voll bekleidet waren und kein geheimnisvolles Klospülen drohte. Mit dröhnendem Schädel, im Mund den ekelhaften Geschmack verwesender Ratten – der sich ihm leider so heftig aufdrängte wie ein Präsidentschaftskandidat im Wahlkampf seinen potentiellen Wählern – betrachtete er die Umgebung.
Er lag auf dem Boden. Das erkannte er, weil der Beton ziemlich nahe war, während die Decke mit den herunterhängenden Kabeln ziemlich hoch über ihm schwebte. Trotz des Schlafsacks, der sich unter ihm befand, war der Betonboden sehr hart. Er hatte einen Krampf im Nacken, weil sein Kopf ziemlich unbequem an die Betonwand
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