Zeit deines Lebens
gepresst gewesen war. Über ihm reckten sich hohe Metallregale bis zur Decke: hart, grau, kalt und deprimierend wie die Kräne, die Dublins Skyline durchsetzten, metallene Eindringlinge, die sich als Aufseher über eine sich entwickelnde Stadt aufspielten. Zu seiner Linken war die schirmlose Lampe, die schuld an dem gnadenlosen weißen Licht war, das nicht wirklich das Zimmer erhellte, sondern wie eine Pistole in einer ruhigen Hand ganz direkt auf Lous Kopf zielte. In diesem grellen Licht war kein Irrtum möglich – er befand sich in Gabes Abstellkammer im Keller des Bürogebäudes. Über ihm stand Gabe und streckte ihm einen dampfenden {233 } Becher Kaffee entgegen. Der Anblick war vertraut, ein Spiegelbild der Szene letzte Woche, als Lou auf der Straße stehen geblieben war, um Gabe einen Kaffee anzubieten. Nur war das Bild diesmal verdreht und beunruhigend wie im Spiegelkabinett, denn Lou konnte nicht leugnen, dass er heute unten war und Gabe oben.
»Danke.« Er nahm Gabe den Becher ab und legte die Hände um das warme Porzellan. »Kalt hier drin«, stellte er fröstelnd fest. Seine ersten Worte waren ein Krächzen, und als er sich aufsetzte, spürte er, wie die Last der Welt auf seinen Kopf herniederkrachte, und der zweite Kater in Folge erinnerte ihn daran, dass das Älterwerden ihm zwar viele Gründe zum Feiern beschert hatte – zum Beispiel, dass seine Nase, die als Junge immer viel zu groß für sein Gesicht gewesen war, irgendwann recht wohlproportioniert wirkte –, aber dass seine Alkoholresistenz nicht dazugehörte.
»Ja, jemand hat mir ein Heizgerät versprochen, aber ich warte noch darauf, dass es ankommt«, grinste Gabe. »Keine Sorge, ich hab gehört, dass blaue Lippen zurzeit total in sind.«
»Oh, tut mir leid wegen des Heizgeräts, ich sage Alison Bescheid«, murmelte Lou und nahm einen Schluck von dem schwarzen Kaffee. Nachdem er die ersten Momente nach dem Aufwachen gebraucht hatte, um zu kapieren, wo er war, sich die Verwirrung über seinen Aufenthaltsort nun jedoch gelegt hatte und er sich über seine Lage im Klaren war, konnte er einigermaßen entspannt seinen Kaffee genießen. Doch gleich nach dem ersten Schluck fiel ihm ein anderes Problem ein.
»Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?« Er setzte sich aufrecht hin und inspizierte sich nach eventuellen Hinweisen. Er trug noch den Anzug von gestern, ein zerknittertes, {234 } zerknautschtes Fiasko mit für sich selbst sprechenden Flecken auf Hemd, Krawatte und Jackett. Genau genommen war er überall ziemlich dreckig. »Was stinkt hier eigentlich so?«
»Ich glaube, das sind Sie«, antwortete Gabe. »Ich hab Sie auf dem Hinterhof gefunden, wie Sie in einen Müllcontainer gekotzt haben.«
»O Gott«, flüsterte Lou und schlug die Hände vors Gesicht.
Dann blickte er verwirrt auf. »Aber ich war gestern Abend doch zu Hause. Ruth und Lucy waren krank, Magen-Darm-Grippe. Und als sie endlich eingeschlafen sind, ist Pud aufgewacht.« Er rieb sich müde das Gesicht. »Hab ich das nur geträumt?«
»Nein, nein«, antwortete Gabe fröhlich, während er heißes Wasser auf seinen Pulverkaffee goss. »Da waren Sie natürlich auch, gleichzeitig. Sie hatten ziemlich viel zu tun letzte Nacht, erinnern Sie sich nicht mehr?«
Es dauerte einen Moment, bis Lou die Ereignisse wieder aus seinem Gedächtnis abrufen konnte, aber dann fielen die Groschen auf einmal haufenweise – wie in einem kaputten Münzautomaten –, und eine Welle von Erinnerungen überrollte ihn: die Tablette, die Verdoppelung und alles, was damit einhergegangen war.
»Diese Frau, die ich kennengelernt habe … « Er brach mitten im Satz ab, denn er wollte einerseits wissen, was passiert war, und andererseits – absolut gleichzeitig! – auch wieder überhaupt nicht. Ein Teil in ihm war von seiner Unschuld überzeugt, während ein anderer ihn am liebsten nach draußen geschleppt und windelweich geprügelt hätte. Womöglich hatte er seine Ehe aufs Spiel gesetzt – und das nicht zum ersten Mal. Kalter Schweiß brach ihm aus allen {235 } Poren, was der Duftmischung im Raum eine neue Geruchsnote beifügte.
Gabe ließ ihn eine Weile schmoren, blies auf seinen Kaffee und trank winzige Schlückchen, wie eine Maus, die an heißem Käse knabbert.
»Sie haben also eine Frau kennengelernt?«, fragte er schließlich ganz unschuldig und mit großen Augen.
»Ich, äh … ich hab eine … ist ja auch egal. War ich allein, als Sie mich heute Nacht gefunden haben?« Gleiche Frage, anders
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