Zeit deines Lebens
sie machten ihre Präsentationen, bemühten sich, dem Chef zu gefallen, fuhren morgens extra früh los, um nicht in den Stoßverkehr zu geraten, und blieben abends länger, damit die schlimmsten Staus sich schon wieder aufgelöst hatten. Alle in diesem Raum Versammelten schoben unglaubliche Mengen von Überstunden, um vor Weihnachten rechtzeitig mit ihrer Arbeit fertig zu werden, und erreichten damit zuerst und vor allem, dass der Haufen persönlicher Probleme, der sich in ihrem Posteingang stapelte, ins Unermessliche anwuchs. Dieser Berg musste dann über Weihnachten abgetragen werden, wenn endlich Zeit {244 } war für Familienprobleme, die man das ganze Jahr über tunlichst beiseitegeschoben hatte. Das Fest des Familienwahnsinns.
Angeführt wurde der Applaus von Mr Patterson, der übers ganze Gesicht strahlte, und alle stimmten ein – alle außer Alfred, der sich auffallend langsam erhob. Als die anderen schon standen, war er noch dabei, umständlich seinen Stuhl zurückzuschieben, als die anderen klatschten, zupfte er noch seine Krawatte zurecht und knöpfte seine Goldknöpfe zu. Immerhin schaffte er es, einmal zu klatschen, bevor der Beifall wieder erstarb, ein einzelner Knall, der eher klang, als wäre ein Luftballon geplatzt.
Lou ging um den Tisch herum, schüttelte Hände und klopfte Schultern. Als er bei Alfred ankam, hatte sein Freund sich bereits wieder gesetzt und streckte Lou nur seine schlaffe, nervös verschwitzte Hand entgegen.
»Ah, der Mann der Stunde«, sagte Mr Patterson herzlich, ergriff mit seiner Rechten Lous Hand und legte die Linke fest auf seinen Oberarm. Dann trat er einen Schritt zurück und musterte Lou so stolz wie ein Großvater seinen Enkel am Kommunionstag, strahlend vor Stolz und Bewunderung.
»Sie und ich werden uns nachher noch unterhalten«, sagte Patterson leise, während die anderen noch unter sich redeten. »Wie Sie wissen, wird es nach Weihnachten hier ein paar Veränderungen geben, das ist ja kein Geheimnis«, meinte er feierlich und wählte seine Worte so, dass sie ihm nicht als Respektlosigkeit Cliff gegenüber ausgelegt werden konnten.
»Ja.« Lou nickte eifrig. Insgeheim war er sehr glücklich, persönlich in dieses Geheimnis eingeweiht zu werden – auch wenn natürlich jeder längst Bescheid wusste.
»Nun, wir unterhalten uns, okay?«, wiederholte Mr Patterson abschließend, und als die Gespräche um sie herum allmählich verstummten, setzte er sich, und alle wurden still.
Mit dem Gefühl zu schweben nahm Lou Platz, fand es aber schwierig, sich auf den Rest der morgendlichen Diskussion zu konzentrieren. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Alfred zumindest einen Teil von Mr Pattersons Bemerkung mitbekommen hatte.
»Sie sehen müde aus, Lou, haben Sie gestern Abend gefeiert?«, erkundigte sich ein Kollege.
»Ich war die ganze Nacht auf, weil meine kleine Tochter und meine Frau Magen-Darm-Grippe hatten. War ziemlich anstrengend.« Er lächelte, als er daran dachte, wie Lucy gut zugedeckt im Bett gelegen hatte, das Gesicht halb unter ihren dichten Ponyfransen versteckt.
Alfred lachte, laut und keuchend wie üblich.
»Mein Sohn hatte die Grippe letzte Woche auch schon«, sagte Mr Patterson. »Das Zeug geht wirklich um zurzeit.«
»Ja, das Zeug geht um, das kann man wohl sagen«, wiederholte Alfred und sah Lou an.
Wie Hitze von einem Highway in der Wüste aufsteigt, so strahlte Alfred aus allen Poren Aggression aus. Sie sickerte aus seiner Seele, verpestete die Luft um ihn herum, und Lou fragte sich nur, ob die anderen es auch bemerkten. Gleichzeitig hatte er Mitleid mit Alfred, denn er konnte sehen, wie verloren und ängstlich er im Grunde war.
»Sie sollten nicht nur mir gratulieren«, verkündete er in die Runde. »Alfred war an dem New-York-Deal genauso beteiligt. Und das mal wieder sehr erfolgreich.«
»Absolut.« Schlagartig hellte sich Alfreds Gesicht auf, {246 } auf einmal war er wieder ganz bei der Sache und fingerte an seiner Krawatte herum, was Lou wie immer nervös machte. »Es war nett von Lou, sich gegen Ende des Treffens doch noch bei mir einzufinden – gerade rechtzeitig, um den Abschluss mitzukriegen.«
Am Tisch lachten alle, aber die Bemerkung traf Lou an einer Stelle, die ziemlich wehtat. In diesem Moment war er plötzlich wieder Aloysius, acht Jahre alt und Mitglied im Fußballverein. Beim Endspiel um die Meisterschaft wurde er wenige Minuten vor dem Schlusspfiff vom Platz genommen, weil ein Teamkollege, der ihm seine Erfolge
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