Zeit der Eisblueten
Sheila ging in eine scharfe, zornige Auseinandersetzung über. Er hatte ihr seinen ersten Gehaltsscheck überreicht, mit dem Vermerk auf der Rückseite: »Auszahlbar an Sheila Hailey.« Die beiden Kassierer bei der Royal Bank würden sich köstlich amüsieren. Vermutlich würde die Bank den Scheck ohnehin nicht annehmen, aber Sheila wollte es versuchen, da sie mit dem Geschäftsführer recht gut befreundet war. Auch jede Art von Überweisung würde von den Mitarbeitern der Bank zur Kenntnis genommen werden, und offenbar gehörte Vertraulichkeit hier im hohen Norden nicht zu den Angestelltenpflichten. Dafydd musste bei dem Gedanken an die Gerüchteküche von Moose Creek mit ihren möglichen kreativen Ausschmückungen solch einer Information lächeln. Er hoffte nur, dass die Kinder nichts davon erfuhren, obwohl sie sich um solche Dinge nicht zu scheren schienen. Sie hatten genug Erfahrungen mit der Komplexität der Beziehungen zwischen Erwachsenen und mit deren Moral gemacht, und das nicht nur zu Hause.
Mark kam die Treppen heruntergeschlendert. Er trug überlange Jeans, die ihm von den Hüften hingen und um seine klotzige Turnschuhe über den Boden schleiften. Sein Haar war kurz geschoren.
»Was ist das denn!«, rief Dafydd. »Was ist denn mit deinem Pferdeschwanz passiert?«
Mark funkelte seine Mutter an und zog sich den Parka über. Es fiel kein weiteres Wort. Sie brachen in Richtung Stadt auf.
»Möchtest du Riding Home sehen?«
»Über den kleinen Trottel, der zum Meisterreiter wird? Klar, warum nicht«, meinte Mark.
»Oder möchtest du zu Beanie’s gehen?«
»Warum hast du kein Haus, sodass wir einfach rumhängen und fernsehen könnten?«
»Na ja, wir könnten uns eine Pizza bestellen und in meinem Zimmer fernsehen.«
»Von mir aus.«
Eine Stunde später hatten sie es sich auf dem purpurnen Bett gemütlich gemacht. Umgeben von käsefreien Pizzas mit Artischocken und Zwiebeln, Popcorn, Oliven, Kirschtomaten, Weintrauben und einer großen Tüte mit gemischten Nüssen sowie einer Zweiliterflasche Coke, lehnten sie an einer zusammengerollten Steppdecke. Den Fernseher hatten sie ans Fußende des Bettes gerückt und Die letzte Flut, einen alten Film mit Richard Chamberlain in der Hauptrolle, auf volle Lautstärke gestellt.
»Ich bin ziemlich sicher, dass er schwul ist«, kommentierte Mark.
»Nie davon gehört«, meinte Dafydd mit vollem Mund.
Nach ein paar Minuten drehte sich Mark mit gerunzelten Brauen zu ihm hin. »Wirst du für immer hier rumhängen?«
»Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht, was ich tun werde.«
»Du könntest dir ein Haus kaufen, weißt du. Oder einen Wohnwagen. Vielleicht könntest du dir einen Computer besorgen und eine Mikrowelle und so ’n Zeug …«
»Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wie würdest du es denn finden, wenn ich das täte?«
»Ist doch deine Entscheidung, oder?« Mark zuckte die Schultern und heuchelte Gleichgültigkeit. »Du könntest ein Auto oder einen Pick-up kaufen und einen Motorschlitten …«
»Darf ich dich etwas fragen? Du scheinst keinerlei Verwandte zu haben, abgesehen von mir natürlich. Hat deine Mutter keine Familie?«
»Meine Mom hat gesagt, dass ich dir nichts darüber erzählen soll.«
»Warum nicht?«
»Weil’s dich einen Scheißdreck angeht.«
»Sind das deine oder ihre Worte?«
Mark dachte einen Moment lang belustigt darüber nach. Dann fixierte er Dafydd mit seinen wässrigen Augen. »Wir haben eine Grandma. Die Mutter meiner Mom. Sie wohnt in Florida.« Er wandte sich wieder dem Geschehen auf dem Bildschirm zu und steckte sich zwei Tomaten in den Mund, eine in jede Wange. »Sie hassen sich, meine Mom und sie. Ich hab ein Jahr lang bei ihr gewohnt.« Er drückte sich mit den Händen gegen die Wangen, und ein Sprühregen voller Kerne schoss ihm aus dem Mund.
»Das wusste ich nicht.« Dafydd reichte ihm einen Stapel Servietten. »Ist Miranda auch hingefahren?«
»Nee. Die alte Dame hasst Mädchen.«
»Und? … Wie war’s so?«
»Scheiße. Mich hasst sie auch. Mom hat vermutet, dass Grandma Jungs mag, weil sie hinter Männern her ist, aber das war nicht so.« Er warf Dafydd einen Blick zu und kicherte. »Grandma hat mich zurückgeschickt. Dabei hatte Mom gedacht, sie wär mich los. Sie war tierisch sauer.«
Richard Chamberlain hatte in seinem Auto eine Halluzination: Trümmer und Leichen trieben um das Auto, das unter Wasser zu sein schien.
»Ich weiß nicht, ob dieser Film geeignet ist für …«
»Pssst … das ist
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