Zeit der Eisblueten
»Er war in einem ziemlich schlechten Zustand.« Sie drehte sich zu Dafydd hin. »Es handelt sich um einen Inuit-Jungen, der von einem Eisbären angegriffen wurde. Es war alles sehr dramatisch, weil ein Schneesturm herrschte – es war im März oder April dieses Jahres -, ein noch nie da gewesener Schneesturm. Man wollte ihn nach Yellowknife fliegen, aber das Wetter war so schlecht, dass man ihn hierher geflogen hat, weil wir so ziemlich die Nächsten waren.«
»Ein Eisbär!«, rief Dafydd. »Ich dachte, dass ein Zusammenstoß mit einem Eisbären so gut wie immer tödlich verläuft?«
»Es heißt, dass ihn ein Hund gerettet hat.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Er war ein paar Tage hier, und es stand auf Messers Schneide. Dann haben wir ihn nach Edmonton bringen lassen. Er benötigte zahlreiche Operationen, und er hat ein Bein verloren. Der Junge war unglaublich tapfer und hat kein einziges Mal geweint.«
»Wie alt war das Kind?«, fragte Dafydd und beugte sich über die heikle Aufgabe, eine klaffende Wunde im Genitalbereich des Mannes zu nähen.
»Zwölf oder dreizehn«, antwortete Atilan und sah von einer medizinischen Zeitschrift auf, die sie nebenbei las. »Er war groß für sein Alter. Ein ausgesprochen schöner Junge. Wir haben alle viel Aufhebens um ihn gemacht, er war etwas ganz Besonderes.«
»Kinder sind oft erheblich bessere Patienten als Erwachsene«, sagte Dafydd. Er richtete sich auf und bog seinen Rücken nach hinten, um die Verspannung zu lockern, die durch seine ständig vorgebeugte Haltung über dem verletzten Fallensteller entstanden war. »Letzten Endes sind Kinder erheblich gelassener.« Ein schwaches Bild von Derek Rose durchzuckte Dafydds Vorstellung. Die glasigen, eingesunkenen Augen des Kindes hatten Fragen gestellt, die sein zu junger Verstand noch nicht zu formulieren vermochte. Nach vier Stunden verließ das Team den OP, erschöpft, aber guten Mutes. Dafydd hatte insgesamt zweihundertsiebenundachtzig Stiche gezählt, aber er war mit seiner Arbeit zufrieden. Der Mann, ein junger Méti, der verheiratet war und ein kleines Kind hatte, würde schreckliche Narben, aber keine schweren Behinderungen zurückbehalten. Zumindest war er so gut behandelt worden, wie man es auch in einem größeren Krankenhaus nicht besser vermocht hätte, und er war am Leben.
Janies Tochter Patricia war unbefugt in die Kantine gegangen und hatte begonnen, etwas Warmes zum Frühstück zuzubereiten und Kaffee zu kochen. Schon bald zog der Geruch gebratenen Schinkens das Personal der Nachtschicht in den dunklen Speiseraum. Eine Atmosphäre der Kameradschaft und des Teamgeistes breitete sich aus. Vielleicht, weil Sheila Hailey nicht hier ist, dachte Dafydd. Ihm war nicht entgangen, dass sie nicht besonders beliebt war, auch wenn sie ihre Verbündeten besaß.
Obwohl er nicht sehr oft Fleisch aß, machte er sich über einen großen Teller mit Schinken und Eiern und Röstis her. Jemand anders nahm sich die Freiheit, noch Pfannkuchen zu braten, und auch davon vertilgte er ein paar.
Kauend bemerkte er zu Dr. Atilan, die neben ihm saß: »Wissen Sie, vor vielen Jahren war ich da oben in der Gegend, in der Nähe von Coppermine, wo der Junge herkam, von dem Sie uns erzählt haben. Es muss der ödeste Ort der Welt sein, aber zugleich ist er unglaublich schön. Wissen Sie noch, wie die Gemeinde hieß? Es gibt dort nur sehr wenige, wenn ich mich recht erinnere.«
Atilan schüttelte den Kopf. »Eine kleine Siedlung, glaube ich. Wahrscheinlich irgendein Inuit-Name.«
»Black River«, rief Janie von der anderen Seite des Tisches herüber.
Black River. Dafydd sah den Namen von seiner eigenen Hand auf zahllose Umschläge geschrieben. – Black River. Was für ein Zufall. Solch ein kleiner Ort. Vielleicht war er sogar den Eltern des verletzten Jungen begegnet, obwohl es dort nur sehr wenige jüngere Leute gab.
Seine Gedanken wanderten zu der Frau, die er hatte lieben dürfen. Er erinnerte sich an ihr langes Haar, das über seine nackte Haut gestreift war, an ihre Steinschnitzereien, die er in seinen Händen gehalten hatte, an die Nordlichter, die den Himmel über ihrer bescheidenen Hütte farbig erhellt hatten. Ob sie noch immer dort war? Er verdrängte den Gedanken. War sein Leben nicht schon chaotisch genug?
KAPITEL
19
D afydd,
ich weiß nicht, was ich sagen soll. Schön, dass Du solche Fortschritte mit den Kindern gemacht hast. Und Deine Vertretungsstelle – Glückwunsch! Das heißt, Du wirst Weihnachten nicht nach
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