Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
Vom Netzwerk:
und kehrte, nun schneller, in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Sein Körper begann unter der warmen Kleidung zu schwitzen. Trotzdem fühlte er sich wohl. Adrenalin verschaffte ihm den Energiestoß, den er benötigte, um die Entfernung zu Ians Hütte zu überwinden.
    Er schien weiter hinausgefahren zu sein, als er vermutet hatte. Die Dunkelheit griff rasch um sich, aber er konnte die Spuren noch immer erkennen. Die Hauptroute würde ihn direkt zurück zur Straße führen, aber ein oder zwei kleinere Spuren zweigten zwischen den Bäumen ab. Er dachte an die Konsequenzen, die es haben würde, wenn er eine falsche Abzweigung nahm und sich verlief – in der Dunkelheit, tief im Wald, bei Temperaturen, die einen Apfel innerhalb von Sekunden bis zum Kern gefrieren ließen. Ein Gefühl der Panik stieg in ihm auf, und er erhöhte sein Tempo nun.
    Mit dem Licht verschwand auch die kraftlose Wärme der Sonne, und es wurde rasch kälter. Den Pfad entlangsausend, fixierte er den bläulichen Boden in der Halbdistanz und suchte ihn nach den Furchen ab, die von dem Motorschlitten der Trapper stammten. Von diesen Furchen und Linien schien jetzt sein Leben abzuhängen. Die Bäume ragten schwarz und drohend über ihm auf. Seine Angst, die falsche Richtung einzuschlagen, trieb ihn an, und er merkte, wie der Schweiß an ihm herabrann.
    Schließlich, nach einer Biegung, erblickte er die Straße und dahinter die Lichter von Ians Hütte. Die Erleichterung ließ ihn den Lauf verlangsamen, bis er fast stehen blieb. Er war erschöpft. Seine Brauen und Wimpern waren mit Raureif überzogen, sogar die Flüssigkeit in seinen Augen drohte zu gefrieren. Er startete erneut und fühlte sich matt, weil die Anstrengung ihm das letzte bisschen Energie entzogen hatte.
    Thorns gedämpft aus der Hütte dringendes Bellen war die schönste Musik in seinen Ohren. Der alte Hund hatte noch immer ein Gehör und ein Wissen, die so scharf waren wie in den Tagen, als er Dafydd auf den Spuren entgegenlief. Sogar Ian wirkte aufgeregt, als Dafydd durch die Tür stolperte.
    »Hast du den Verstand verloren, du Blödmann«, brüllte er. »Du hast noch nicht mal die Taschenlampe mitgenommen.«
    »Ich habe mein Zeitgefühl verloren – und fast auch die Spur.« Dafydd ließ sich auf einen Stuhl fallen und versuchte, seine Stiefel aufzuschnüren und seine eingezwängten Füße zu befreien.
    »Kipp das runter«, sagte Ian und gab ihm ein Glas Whisky. Dann beugte er sich hinab und half Dafydd, die steif gefrorenen Schnürsenkel zu öffnen.
    »Das hier ist nun wirklich nicht das beste Mittel gegen Hypothermie … oder Dummheit«, meinte Dafydd, »aber wenn du darauf bestehst.«
    Er schluckte die beißende Flüssigkeit hinunter, schob seinen Stuhl an den Holzofen und zog eine Kleidungsschicht nach der anderen aus. Die Panik war allmählich verebbt, und nun fühlte er sich wie ein ausgewrungener Lappen. Er hatte die Vorkehrungen und Vorsichtsmaßnahmen vergessen, die ein Mensch im tiefen arktischen Winter beachten musste. Es war so leicht, seine Existenz auszulöschen – einfach, indem man nichts tat, nur da draußen war, sich verirrte und erfror.
    »Das nennt man Tod durch Unterlassung«, sagte Ian, als hätte er seine Gedanken gelesen.
    Thorn lief auf seinen arthritischen Beinen aufgeregt hin und her. Er winselte leise, als bedrücke ihn etwas, und seine Augen blickten erschöpft und traurig.
    »Ja, das bringt mich auf eine Frage«, erwiderte Dafydd scharf. »Hast du den Hund gefüttert?«
    Statt zu antworten, trat Ian an den Schrank und schüttete trockenes Hundefutter in eine Plastikschüssel. Er stellte die Schüssel auf den Boden, aber Thorn schaute sie noch nicht einmal an. Ian wandte sich ab und rührte einen Eintopf auf dem Herd um. Ein beißender Geruch von Wild stieg auf. Er probierte das Gericht mit einem Teelöffel und tauchte dann zwei Becher direkt in den Topf, um das klumpige Gebräu herauszuschöpfen. Einen der tropfenden Becher reichte er Dafydd.
    »Gieß was auf Thorns Futter«, sagte Dafydd. »Der arme Kerl kann nicht nur dieses Sägemehl fressen.«
    »Heute hast du aber eine Menge guter Ratschläge auf Lager«, bemerkte Ian gereizt.
    Sie nahmen den Eintopf zu sich, ohne einen Löffel zu benutzen. Dafydd wollte über Ians Rückkehr an die Arbeit sprechen, aber Ian schien sich jeder Unterhaltung über seine Zukunft zu verweigern. Da Dafydd nun seine Arbeit machte, brauchte Ian sich nicht mehr zusammenzureißen. Er hoffte offenbar, alles werde

Weitere Kostenlose Bücher