Zeit der Eisblueten
Realität zurechtzufinden. Nach ein oder zwei Sekunden wurde ihm bewusst, dass er ein Mann an einem fremden Ort und von Beruf Arzt, aber nicht im Dienst war. Es ging um etwas anderes. Er fuhr hoch und sprang aus dem Bett. »Ich komme!«, rief er und suchte nach seinem Bademantel.
»Das Krankenhaus«, sagte Tillie, als er die Tür öffnete. »Sie haben einen Notfall und brauchen Ihre Hilfe. Sie sollen sofort kommen.«
Dafydd schlüpfte ohne Socken in seine Jeans und Schuhe, zog sich ein Sweatshirt und seinen Parka über und rannte die Treppe hinunter. Tillie wartete schon mit startbereitem Auto vor der Tür.
»Danke, Schatz«, japste er. »Ich wette, Sie bedauern, dass ich hier wohne. Ich bereite Ihnen nichts als Scherereien.«
»Nein, überhaupt nicht … Sie können für immer hierbleiben.« Tillie warf ihm einen Blick zu, während sie den Hügel zum Krankenhaus hinauffuhr.
Er hörte den unmissverständlichen Klang der Verliebtheit und mied ihre Augen. Tillies kurze Ehe hatte geendet, als ihr schon recht betagter Mann zehn Jahre zuvor an Altersschwäche gestorben war. Danach war sie zu neuem Leben erwacht, eine aus ihrem Kokon aus Fett schlüpfende Puppe, die sich in einen schönen Schmetterling mittleren Alters verwandelte. Wahrscheinlich hatte sie wenig von der Leidenschaft zwischen Mann und Frau erlebt. Dafydds Blick streifte ihr anmutiges Profil, das kleine, zarte Gesicht und die winzigen Hände, mit denen sie das Lenkrad hielt. In dieser Stadt musste es Dutzende von einsamen Männern geben, die sich mit Freuden in sie und ihr prosperierendes kleines Frühstückshotel verlieben würden. Doch er musste sie um jeden Preis von der Vorstellung abbringen, dass er der Mann ihres Lebens war. Noch eine Komplikation mehr in seinem Leben, und er würde einen Nervenzusammenbruch erleiden.
Sie setzte ihn am Eingang zur Notaufnahme ab, und er rannte zum Hauptoperationssaal, wo ihm Janie entgegenkam.
»Ein Fallensteller ist von einem Grizzly angegriffen worden, nicht weit von hier. Er ist stabilisiert, aber der Bär hat ihn praktisch in Stücke gerissen. Keine sichtbaren inneren Verletzungen, nur ein paar gebrochene Rippen und eine ausgekugelte Schulter. Zum Glück trug er zahlreiche Kleidungsstücke übereinander. Und ein Freund war bei ihm. Der Knabe muss einen Schutzengel gehabt haben.«
Nachdem er sich desinfiziert hatte, half Janie ihm, seine Handschuhe überzustreifen. Sie trat dichter an ihn heran und flüsterte : »Lezzard hat Bereitschaft, aber er ist auf einer Party gewesen. Seine Frau hat ihn nicht mal wach gekriegt. Nadja hat als Zweite Bereitschaft, aber ich habe mit Hogg telefoniert, um ihm die Situation zu erklären, und er fand, ich solle Sie anrufen. Sie ist so … unerfahren.« Janie trat zurück. »Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte er. »Ich vermute, dass Atilan die Narkose vornimmt?«
Janie nickte. Dann sagte sie leise: »Sheila ist nicht hier, falls Sie sich wundern.«
»Gott sei Dank.«
Sie blickte ihn an, sagte aber kein Wort.
Während er Stunden damit zubrachte, die zerfetzten Hautlappen zusammenzunähen, wo die mörderischen Krallen des Grizzly das Fleisch des Mannes aufgeschlitzt hatten, fragte Dafydd die Krankenschwester, wie es möglich sei, dass ein Grizzly um diese Zeit im tiefsten Winter herumstreifte.
»Möglicherweise hat ihn der junge Mann gestört. Grizzlys erwachen gelegentlich und haben dann meist die denkbar schlechteste Laune.«
Dr. Atilan, eine schweigsame, aus Ungarn stammende Frau, begann plötzlich, hinter ihrer Maske zu sprechen. Mit ihrem starken Akzent berichtete sie in allen blutigen Details von einem spanischen Radfahrer, der im Sommer 1998 von einem Braunbären angefallen worden war. Er hatte sich vorgenommen, als Erster den gesamten neuen Highway mit dem Rad abzufahren, von Wolf Trail bis nach Tuktoyaktuk. Ein Anwohner kam mit dem Auto vorbei, etwa hundertdreißig Kilometer südlich von Moose Creek, und bemerkte, dass ein Fahrrad am Straßenrand lag. Eines der Räder drehte sich noch. Er hielt an und hörte Schreie von den Bäumen her, zwischen die der Bär den unglücklichen Mann geschleift hatte. Der Bär wurde durch die Rufe des Autofahrers vertrieben, und man konnte den tollkühnen Spanier retten. Mit über vierhundert Stichen schlug er alle Rekorde. Noch immer schickte er dem Krankenhaus an jedem 6. Juli Blumen von Bilbao aus, wo er inzwischen als Lehrer arbeitete.
»Was ist mit dem Jungen aus Coppermine?«, fragte Janie.
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