Zeit der Eisblueten
den Lippen. Sein Körper war aufgerichtet, die Augen geschlossen, die nackten Hände im Schoß gefaltet. Er hatte seinen Parka am Hals geöffnet, doch die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Die Skier und Stöcke lagen säuberlich angeordnet neben ihm.
»Ian, Gott sei Dank … Ian.« Dafydd fiel vor ihm nieder und drückte Ians ungelenken Körper an sich, wiegte ihn hin und her. »Sprich mit mir. Los, Brannagan, sag doch etwas!« Er lehnte sich zurück und gab seinem Freund mehrere Klapse ins Gesicht. »Wach auf … Wach auf!« Er schüttelte Ian heftig an den Schultern, aber der reagierte nicht. Dafydd war verzweifelt. Ian mochte dem Tode nahe sein, aber es gab wenig, was Dafydd für ihn tun konnte.
Seine Hände waren taub vor Kälte, und er fürchtete sich davor, seine Handschuhe auszuziehen und ein Feuer zu machen, aber er hatte keine andere Wahl. Wie rasend zerrte er das Papier und das Anmachholz mit seinen nackten Händen aus dem Rucksack. Es war eine lächerliche Hoffnung, mit ein wenig Papier und ein paar Stücken Anmachholz ein Feuer im Schnee anzünden zu wollen. Aber Feuer war das Einzige, was in extremer Kälte Leben rettete. Deshalb suchte er mit der Taschenlampe den Boden um sich herum nach Ästen und Zweigen ab, die sich zum Feuermachen eigneten. Alles war mit dem weißen, schönen Schnee bedeckt, den er so liebte. Er fluchte und drängte seine Tränen zurück. Zu weinen war eine weitere Gefahr, die er vermeiden musste.
Seine Finger wurden von Sekunde zu Sekunde starrer. Während er mit den Streichhölzern hantierte, fielen die meisten aus der Schachtel und in den Schnee. Beim nächsten Versuch ließ er die Schachtel selbst fallen. Er tauchte die Hand in den Schnee, um sie aufzuheben. Es war, als halte er seine Finger in ein loderndes Feuer. Er biss die Zähne zusammen und keuchte vor Wut und Frustration. Er versuchte es erneut mit der anderen Hand. Als er im Schnee herumsuchte, wurde ihm vor Schmerz schwarz vor Augen, und kleine Eisnadeln tanzten auf seiner Netzhaut. Mit der Hand konnte er nichts mehr fühlen oder greifen. Die Streichhölzer waren verloren, und der Strahl der Taschenlampe wurde noch trüber. Schnell zog er die Handschuhe wieder an, doch er wusste, dass es für einige seiner Finger wahrscheinlich bereits zu spät war.
Ian rührte sich nicht. Dafydd zog ihm die Kapuze des Parkas vom Kopf und leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht. Seine Züge wirkten friedlich, ja fast glücklich. Aber seine nackten Hände waren so weiß wie der Schnee. Wenn er noch lebte, würde er ohne seine Hände auskommen müssen, denn in ihnen zirkulierte das Blut längst nicht mehr. Ein Leben ohne Hände würde nicht einfach sein, aber in der Arktis war das nichts Ungewöhnliches, und vielen Menschen gelang es.
Zu seinem Schrecken bemerkte Dafydd jedoch, dass Ian unter dem Parka nur ein T-Shirt trug. Er hatte nicht die Absicht gehabt, sich warm zu halten. Dafydd zog Ian die halb gerauchte Zigarette aus den gefrorenen Lippen und begann, sein Gesicht zu reiben und ihn anzuschreien. Dann ohrfeigte er ihn heftig. Ein starker Schlag ließ Ian zur Seite rutschen, und nun offenbarte sich sein Zustand: Er war tot und sein Körper bereits gänzlich gefroren. Dafydd konnte jetzt nicht länger verdrängen, dass er mit seinem eigenen Leben spielte.
Er lehnte sich im Schnee zurück und betrachtete seinen Freund. Ian war tot. Was da seitlich hingestreckt im tiefen Schnee lag, war eine Hülle, eine geschrumpfte, leere, ausgetrocknete Hülle. Wie leicht sein mageres Fleisch gefroren war. In der Ferne waren die Wölfe zu hören, jetzt weiter fort. Sie heulten ihr gequältes Lied.
Für Dafydd gab es nur noch eines: sich selbst in Sicherheit zu bringen. Er überlegte kurz, ob er versuchen sollte, die Skistiefel von Ians Füßen zu ziehen und selbst hineinzusteigen, damit er mit den Skiern zurückfahren konnte. Aber nach solch einem Manöver würden seine Finger und Zehen nicht mehr zu retten sein. Also stand er auf und lehnte Ian wieder aufrecht an den Baum – so, wie er ihn gefunden hatte. Dann steckte er sich die Taschenlampe zwischen die Innenflächen der Handschuhe.
»Leb wohl, mein Freund. Endlich hast du Frieden gefunden«, sagte Dafydd und blieb noch eine Sekunde vor dem erstarrten Körper stehen. Dann wandte er sich um und machte sich auf den Rückweg.
Dafydd rannte stolpernd vorwärts und schwang wild die Arme, um die Blutzirkulation in seinen eisigen Händen wieder in Gang zu bringen. Er biss die Zähne
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